Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück
14. September 2004Ein der Türkei nachgesagter Reflex ist wieder ausgelöst worden: Wenn nämlich alles gut und in geordneten Bahnen läuft wie gegenwärtig die Beziehungen zur Europäischen Union, lassen Rückschläge nicht lange auf sich warten. Diesmal haben aber weder die Militärs noch Nationalisten die Aussichten auf Beitrittsverhandlungen mit der EU vernebelt. Es sind ausgerechnet die religiös-konservativen Abgeordneten der mit überwältigender Mehrheit ausgestatteten Regierungspartei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die für internationale Irritationen bei der Beurteilung der Türkei und ihrer Reife für eine weitere Heranführung an die EU gesorgt haben.
Tatsache ist, dass die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) seit der Übernahme der Regierungsverantwortung vor zwei Jahren in Sachen Reformen die vorangegangenen Administrationen etablierter Parteien zur Überraschung von Freund und Feind in den Schatten gestellt hat. Noch nie war die Türkei derart nahe am Ziel, die Kopenhagener Kriterien als Grundvoraussetzung für zügige EU-Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Mit 346 neuen oder erneuerten Paragraphen sollte nun endlich auch das türkische Strafrecht europäischen Normen und Erwartungen angepasst werden.
Überwiegend positive Aspekte
Doch der wegen der beabsichtigten Wiedereinführung des Ehebruchs als ein Straftatbestand - begleitet von kruden fundamentalistischen Ideen wie Flirtverbot in der Öffentlichkeit, Schließung von Freudenhäusern und der Genitalien-Untersuchung im Verdachtsfall - wurden die überwiegend positiven Aspekte der Strafrechtsreform völlig in den Hintergrund gedrängt. Das Land ist wieder in seiner Entwicklung gebremst worden und scheint sich erneut zwei Schritte vor und einen Schritt zurück zu bewegen. Ehebruch als Straftatbestand? Da trauen die Europäer ihren Ohren nicht - und das drei Wochen vor der Veröffentlichung des Fortschrittsberichts der EU-Kommission, der als Grundlage für eine endgültige Entscheidung des EU-Rates im Dezember über Beitrittsverhandlungen dienen soll.
Wer den Schaden selbst verursacht, braucht auf Spott nicht lange zu warten. Was passiert, wenn ein Ehepaar im Urlaub ohne Trauschein ein Doppelzimmer belegt? Was passiert, wenn junge Menschen beim Tanzen sich umarmen oder auf einer Parkbank flirten? Was passiert, wenn eine Frau in entlegenen Regionen Anatoliens verdächtigt wird, einen von Sicherheitskräften gesuchten Mann bei sich versteckt zu haben und der Richter eine im Sprachgebrauch als "Jungfräulichkeitstest" bezeichnete Untersuchung der Genitalien der Frau anordnet? Was passiert, wenn getrennt lebende Eheleute neue Lebenspartner haben, ohne die amtliche Scheidung abzuwarten? Müssen sie dann bis zu zwei Jahren ins Gefängnis? Wer die heutige Lebenswirklichkeit in der Türkei kennt, kann all dies nur als völlig absurd bezeichnen.
EU muss deutlich werden
Sollte die Türkei also doch lieber außen vor gelassen werden? Das wäre die schlechteste Lösung. Vielmehr sollte die EU sich deutlich äußern, sich auch in die Pflicht genommen fühlen - und versuchen, Ankara vor einer Entgleisung auf dem Weg in die EU zu bewahren. Die Debatten um Ehebruch, Flirtverbot und entwürdigende Einschränkungen der Intimsphäre beweisen, welchen Gefahren die Türkei ausgesetzt wäre, wenn das Ziel des EU-Beitritts aus dem Blick geriete.
Fakt ist, dass es keine Alternative zur religiös-konservativen Regierung von Recep Tayyip Erdogan als Verhandlungspartner der EU gibt. Also muss die EU alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung nicht im Stich zu lassen, die sich im Widerspruch zu religiösen oder nationalistischen Falken europäisch fühlt und auch so denkt und handelt. Die EU aber wird gewiss kein Land mit einem rückständigen Ehebruchs-Paragraphen aufnehmen. Die Regierung in Ankara drängt nicht zuletzt auf Druck der breiten türkischen Öffentlichkeit in die EU. Sie muss dann aber auch die Regeln des Clubs akzeptieren. Diese schließen ein, dass in einer Demokratie die Familie durch gänzlich andere Gesetze als ein Ehebruch-Verbot gestützt und geschützt wird. Auch in der türkischen Politik stirbt die Hoffnung zuletzt - nämlich die Hoffnung darauf, dass am Ende die Vernunft den Rückschritt besiegt.