Zwei Jahre Drogenkrieg auf den Philippinen
9. Mai 2018Orly Fernandez rutscht unruhig auf der Holzbank hin und her, bevor er sein Handy hervorzieht. Er wirft einen Blick auf das Whiteboard, auf dem die Toten der Nacht verzeichnet sind, und murmelt: "Keine Anrufe." Es ist Montag, gegen zwei Uhr morgens. Der letzte Anruf kam gegen 21 Uhr. Üblicherweise dauere es nicht so lange, bis jemand stirbt, sagt Fernandez der DW. "Am 1. Juli wurde Duterte Präsident. Am 2. fing es an. Wir haben fast jede Nacht fünf bis sieben Leichen geholt. So ab zwei Uhr morgens. Jetzt sind es nur noch drei Tote die Woche", sagt Fernandez, Betriebsleiter der Leichenhalle Eusebio in Malabon, etwa 13 Kilometer von der philippinischen Hauptstadt Manila entfernt.
Am 9. Mai 2016 gewann Rodrigo Duterte die Präsidentschaftswahlen und initiierte sogleich die Operation "Oplan Tokhang" (in Deutsch etwa: anklopfen und nachfragen). Er wollte damit sein Wahlkampfversprechen einlösen und mit dem Kampf gegen den Drogenhandel ernst machen. Jeden Morgen liegen seither Leichen von vermeintlichen Drogenhändlern und Drogenabhängigen unter Brücken, in dunklen Gassen und auf Müllkippen. Auf viele von ihnen liegt ein Pappschild mit den Worten: "Ich bin ein Dealer/Abhängiger. Sei nicht wie ich."
Der stetig wachsende Leichenberg verwandelte die dicht besiedelten Industriebezirke Caloocan, Malabon, Navotas und Valenzuela (zusammen auch als "CAMANAVA" bekannt) rund um Manila in "killing fields". Das bedeutete viel Arbeit für Orly Fernandez. Momentan ist die Lage etwas ruhiger.
Das Töten geht weiter
Aber die Anti-Drogen-Operationen der Polizei gehen weiter, und zwar vor allem in Gegenden außerhalb von CAMANAVA. Vor zwei Monaten wurden 13 mutmaßliche Drogenverdächtige bei einer großangelegten Polizeirazzia in Bulacan, etwa 81 Kilometer von Manila entfernt, getötet. Wenige Tage später folgte eine zweite Razzia mit ebenfalls 13 Toten.
Je abgelegener die Razzien sind, desto schwieriger ist für die Medien oder Nichtregierungsorganisationen, das Ausmaß der Tötungen zu dokumentieren. Die Regierung hat die Einsatzrichtlinien für "Oplan Tokhang" Anfang 2018 überarbeitet, und zwar mit dem Ziel, Transparenz zu schaffen. Tatsächlich aber ist es schwieriger geworden, die Einsätze zu überprüfen und zu erfahren, was im Einzelfall passiert ist. Die Polizei ist die einzig verbliebene Quelle, wenn es um Fragen zum Anti-Drogenkrieg geht.
Dabei lässt sich noch nicht einmal die grundsätzliche Frage beantworten, die viele Menschenrechtsaktivisten und Familienangehörige der Opfer umtreibt: Wie viele Menschen sind im Drogenkrieg getötet worden?
Regierung spielt mit den Zahlen
Zu Beginn der Kampagne prahlte die Nationalpolizei der Philippinen (PNP) mit den Zahlen. Medienvertreter wurden zu besonders blutigen Operationen eingeladen. Die PNP wollte damit die Effektivität des Anti-Drogenkriegs belegen. Duterte hatte seine uneingeschränkte Unterstützung zugesichert: "Tut eure Pflicht! Und wenn ihr dabei 1.000 Leute tötet, werde ich euch beschützen." Jeden Kritiker diffamierte der damalige PNP-Polizeichef Ronald Dela Rosa, ein alter Verbündeter vom Präsident Duterte, als "undankbar".
"Doch dann fingen sie an, die Zahlen zu beschönigen", sagt Malou Mangahas, Geschäftsführer des "Philippine Center of Investigative Journalism" (PCIJ) auf einem Forum zu Kriminalität und Drogenkrieg im April 2018. "Denn das Ganze wurde bald ein PR-Problem." Es fing im Oktober 2016 mit dem Tod eines südkoreanischen Geschäftsmanns an, der entführt und dessen Leichnam später in einem Polizeihauptquartier gefunden wurde. Im August 2017 zeigte das Video einer Überwachungskamera, wie der 17-jährige Kian delos Santos von Zivilpolizisten gewaltsam in eine Seitenstraße gezerrt wurde, wo man vier Stunden später seine Leiche fand. Beide Ereignisse führten auf den Philippinen und international zu massiver Kritik.
Medien dokumentieren das Sterben
Ebenfalls von Beginn an versuchten philippinische Medien, die Zahl der Tötungen zu dokumentieren. Zum Beispiel die philippinische Website Rappler. Über einen längeren Zeitraum pflegte Rappler eine Opferliste. Bis Juli 2017 konnte sie 7.080 Tötungen dokumentieren, die im Zusammenhang mit Polizeioperationen oder maskierten Angreifern, den berüchtigten Todesschwadronen, standen. Außerdem tauchte in den Polizeistatistiken eine neue Kategorie auf: "offene Todesfälle" (Death under Investigation, kurz: DUI). Sie gab es vor dem Drogenkrieg nicht und weckte das Interesse der Reporter. "Wir sagen nicht, dass die DUIs mit dem Drogenkrieg unmittelbar verbunden sind. Aber das war schon ein signifikanter statistischer Wert, den es zuvor nicht gab", sagt Gemma Mendoza, Chefin von Rapplers Daten-Journalismus-Abteilung, im Gespräch mit der DW.
Als Datengrundlage verwendete Rappler Berichte von Polizeireportern, die diese per Chat-Dienst Viber weitergaben. Aber: "Es war schwierig, die Zahlen mit den offiziellen Zahlen abzugleichen, da die Nationalpolizei PNP keine Einsatzberichte zu einzelnen Fällen herausgibt. Wir haben uns darum bemüht. Aber das wurde mit der Begründung, es handele sich um nicht abgeschlossene Untersuchungen, verweigert", sagt Mendoza.
Auch andere Medien bemühten sich, die extralegalen Hinrichtungen zu dokumentieren. Der philippinischen TV-Nachrichtensender ABS CBN veröffentlichte Karten und Infografiken, die Tageszeitung "Philippines Daily Inquirer" fertigte ebenfalls eine Tötungsliste an, auf der die Namen und Umstände des Todes von in der Regel jungen Männern aus Armenvierteln verzeichnet wurden.
Real Numbers Kampagne
Die Regierung diffamierte die Zahlen als "Fake News" und ging im Mai 2007 mit der sogenannten RealNumbersPH-Kampagne in die Offensive. Die Pressestelle des Präsidialamts (PCOO) wollte damit die "irreführenden Zahlen von Menschenrechtsorganisationen und den Medien" korrigieren.
Im Zuge der Kampagne wurden die Definitionen und Begriffe für Tötungen im Zusammenhang mit Anti-Drogen-Operationen erweitert. Zu "offene Todesfälle " kam im Januar 2017 "offene Mordfälle" und im März 2017 "offene Totschlagsfälle" hinzu.
"Die Zahl der Tötungen reduzierte sich, indem die Toten zwischen einer Vielzahl konfuser Kategorien aufgeteilt wurden. Das alles scheint Teil einer Strategie der Regierung zu sein, die darauf abzielt, den anfänglich schnell gestiegenen Zahlen von Tötungen im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg zu reduzieren", so Phelime Kine, Vize-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Asien im Gespräch mit der DW.
Menschenrechtskommission kommt kaum voran
Doch alle Versuche, Dutertes Drogenkrieg zu dokumentieren, blieben unvollständig. Außerdem schienen Menschenrechtsgruppen, die Medien und die Polizei jeweils ihre eigenen Methoden zu haben, um die Toten des Drogenkriegs zu zählen. "Es gibt eine Vielzahl abweichender Zahlen", betonte auch Jacqueline de Guia, Sprecherin der philippinischen Menschenrechtskommission auf einer Pressekonferenz am 5. April 2018, die sich ebenso wie das Oberste Gericht der Philippinen seit längerem mit den Tötungen befasst.
Die Untersuchungen der Menschenrechtskommission gestalten sich als schwierig, da Angehörige von Opfern und deren Umfeld wegen des Klimas der Angst schweigen. Auch die PNP zeigt wenig Interesse, die Anfragen der Kommission zu beantworten. Schon im Juli 2016 gab es eine erste Anfrage, die aber erst mit über einem Jahr Verzögerung von der PNP beantwortet wurde. Die PNP verpflichtete sich darin zu mehr Transparenz und wollte die Einsatzberichte herausgeben. "Bis heute warte wir darauf", erklärte die Sprecherin der Menschenrechtskommission de Guia im April 2018.
Oberstes Gericht
Auslöser für eine Untersuchung des Obersten Gerichts war der Jahresabschlussbericht über die Erfolge der Duterte-Administration, der in den ersten 18 Monaten Amtszeit mehr als 20.000 Tötungen im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg aufführte (16.355 "Totschläge bei Ermittlungen" und 3.967 Getötete bei Anti-Drogeneinsätzen, siehe Screenshot). Im Bericht werden Tötungen, die im Bezug zu Drogen, und andere gewalttätige Tötungsdelikte vermischt.
Der Bericht alarmierte Menschenrechtsgruppen, die sich schließlich an das Oberste Gerichts wandten. Das Gericht zitierte den Bericht in einem Beschluss vom 10. April 2018 und urteilt: "Die Einbeziehung dieser Tötungen in einen Bericht über die Erfolge der Regierung könnte den Eindruck erwecken, dass es sich um staatlich geförderte Tötungen handelt." In Summe handele es sich um 20.322 Tötungen oder fast 40 Tote pro Tag. "Dieses Gericht will wissen, warum so viele Personen getötet wurden."
In der gleichen Resolution ordnete das Gericht an, dass die Regierung die Unterlagen zu mehr als 3.000 Todesfällen im Zusammenhang mit Polizeioperationen zu übergeben habe, damit das Gericht untersuchen und überprüfen könne, ob der Drogenkrieg gegen die Verfassung verstößt. Der Generalstaatsanwalt Jose Calida, ein Unterstützer Dutertes, hatte das zuvor immer mit dem Hinweis verweigert, dass es sich um Informationen handele, die die nationale Sicherheit betreffen.
John Bulalacao, Sprecher der PNP, sagte gegenüber der DW, dass die Polizei die Dokumente gerade zusammenstelle, allerdings nur unter der Voraussetzung einer abschließenden Zustimmung durch den Präsidenten herausgebe. "Wir sind Teil der Exekutive. Der Präsident ist unser Boss", fügte Bulalacao hinzu.
Auf der Suche nach festem Grund
In einem Versuch herauszufinden, was wirklich über die Zahl der Getöteten auf den Philippinen bekannt ist, wertete die Deutsche Welle die Statistiken zu Mord und Totschlag auf einer Webseite der PNP namens Bantay Krimen (BK) aus und glich diese mit den Zahlen des "Directorate for Investigation and Detective Management" (DIDM) der PNP ab. Die Idee dahinter: Eine zuverlässige Datengrundlage über die Zahl von Tötungsdelikten schaffen, von der aus weitere Aussagen getroffen werden können.
Bei BK handelt es sich um eine öffentlich zugängliche, von der PNP gehostete Webseite, die "das Bewusstsein der Bevölkerung für Kriminalität schärfen soll", wie es in einer Presseerklärung zum Start der Webseite im März 2016 heißt. Christian Santillian aus der IT-Abteilung der PNP erklärte gegenüber der DW, dass die Zahlen auf der Seite BK auf den elektronischen Polizeiberichten (blotter reports) der über 1.700 Polizeistationen im ganzen Land basiert. Wenn jemand Anzeige erstattet oder die Polizei zu einem Tatort gerufen wird, wird der Fall geprüft und anschließend in eine elektronische Datenbank einpflegt. BK wiederum stellt die Berichte, unterteilt nach verschiedenen Kategorien (Mord, Totschlag, Drogendelikt, Diebstahl etc.), auf einer interaktiven Karte dar.
Die DW hat die Daten für das Jahr 2017 mit Stand 5. Februar 2018 ausgewertet. Das Ergebnis: Laut BK waren auf den Philippinen 21.999 Menschen ermordet oder erschlagen worden. Das würde einen deutlichen Anstieg gegenüber dem Vorjahr bedeuten und die Philippinen zu einem der gefährlichsten Länder der Welt machen. 20.999 Tötungen (Mord plus Totschlag) würden eine Mordrate von fast 22,0 ergeben (siehe Grafik). Der regionale Durchschnitt in Südostasien liegt bei 2,9, so das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC). Allerdings sind Vergleiche schwierig, da die statistischen Methoden von UNODC und der PNP verschieden sind. Die letzte Mordrate für die Philippinen von UNODC stammt aus dem Jahr 2014 und liegt bei 9,8.
Um Erläuterung der Zahlen gebeten, betonte Santillian, dass BK zwar ein Datenspeicher sei, aber nicht für offizielle Statistiken genutzt werde. Die offiziellen Polizeistatistiken der Philippinen würden von einer anderen Stelle, dem DIDM, bearbeitet.
In der Statistik-Abteilung der PNP
Die DW arrangierte ein Treffen mit Superintendent Adelio G. Castillo und seinem Team beim DIDM, um zu verstehen, wie die PNP seine Daten verwaltet. Auf diesem Treffen erklärten Castillo und sein Team, dass BK ein anderes System sei als dasjenige, welches zur Analyse und Interpretation der Kriminalitätsentwicklung und für offizielle Zahlen verwendet wird. Dabei legten Castillo und seine Mitarbeiter Zahlen vor, die denen des statistischen Jahrbuchs der Philippinen seit 2004 weitgehend entsprachen, aber massiv von den Zahlen in BK abwichen.
Im Laufe des Treffens mit der DW konnten sich die Experten der PNP nicht erklären, warum die Daten ihres internen Systems und von BK derartig voneinander abweichen, obwohl sie auf derselben Quelle basieren, nämlich den elektronischen Polizeiberichten.
Später meldete sich Castillio bei der DW und erklärte, die Zahlen in BK seien zu hoch, da sie auch versuchten Mord und versuchten Totschlag einschlössen. Er fügte hinzu, dass die PNP hart daran arbeite, die Sammlung und Verarbeitung von Daten zu verbessern und verbindliche Standards einzufügen.
Kurze Zeit nach dem Treffen mit der DW, am 10. April 2018, wurde die Webseite Bantay Krimen aktualisiert. Die Zahlen vom April lagen 67 Prozent unter denen von Februar (die in den Grafiken abgebildet sind). Sie liegen nun außerdem mehr als 4.000 Fälle unter den offiziellen Zahlen der PNP.
Buchstaben-Suppe
Der Sprecher der philippinischen Polizei Bulalacao betonte am 25. April 2018 in einem telefonischen Interview mit der DW: "Die PNP frisiert die Zahlen nicht. Unsere Zahlen fußen auf empirischen Daten und sind absolut wahrheitsgemäß. Sie sind in fast jedem Fall korrekt, auch wenn Unstimmigkeiten vorkommen können." Ein Grund für derartige Unstimmigkeiten seien nach Bulalacao verzögerte Berichte von weit entfernten Polizeistationen oder nicht unmittelbar gemeldete Straftaten.
Das erklärt aber nicht, wieso es so viele verschiedene und widersprüchliche Zahlen gibt. Für das Jahr 2017 gibt es verschiedene Angaben, die von 7.329 Tötungen (Mord plus Totschlag) bis zu 20.999 reichen. Wie viele davon, möglicherweise sogar darüber hinaus im Anti-Drogenkrieg gestorben sind, lässt sich ebenfalls nicht klar beziffern. Amnesty International schätzt 13.000.
Das philippinische Zentrum für investigativen Journalismus (PCIJ) hat ebenfalls verschiedentlich versucht, die Zahlen des Drogenkrieges und der Tötungen auf den Philippinen auszuwerten. Bereits in ihrem ersten Bericht vom 8. Juni 2017 kam es zu dem Schluss: "Stetig wechselnde und nicht zusammenpassende Kategorien erzeugen ein Durcheinander, was die Ordnung und den Vergleich der Zahlen verhindert. Das gleiche gilt für die Zeiträume. Die Statistiken sind üblicherweise nicht auf ein Jahr gerechnet, was es sehr schwierig macht, die Zahlen zu vergleichen und Trends zu identifizieren." Auf einem Forum zum Thema im April 2018 erklärte Mangahas, der Direktor des PCIJ, mit Blick auf die Kriminalstatistiken der Philippinen: "Es handelt sich um eine Buchstabensuppe, die kein Mensch mehr verstehen kann."
Es gibt, so das Fazit, keine öffentlich zugänglichen Zahlen darüber, wie viele Menschenleben Dutertes Anti-Drogenkrieg kostet. Die Ausgangsfrage muss unbeantwortet bleiben.