Zwangsstörungen
30. Juli 2014Patrick ist gerade 13, vielleicht 14 Jahre alt, als er realisiert, dass etwas nicht stimmt. Er muss sich seine Hände immer häufiger und immer länger waschen - und trotzdem wird er das Gefühl nicht los, noch immer schmutzig zu sein. Bald reicht das bloße Händewaschen nicht mehr aus.
Der Teenager geht nach jedem Toilettengang unter die Dusche. Auch danach wäscht er sich wieder die Hände. Der Ekel vor seinem Körper und seinen Ausscheidungen wird dennoch immer größer. "Es wurde zu einem Teufelskreis, aus dem ich nicht mehr herauskam", erzählt der heute 25-Jährige. Menschen, die unter Zwängen leiden, müssen dieselben Handlungen immer wieder durchführen, obwohl sie wissen, dass ihr Verhalten unsinnig ist. Aber wie entwickelt ein Kind schon eine solche Störung?
"Multifaktorielle Ursachen": So richtig weiß es keiner
Eine klare Antwort darauf weiß auch der Kinder- und Jugendpsychiater Christoph Wewetzer nicht. Er behandelt Zwangserkrankte bis zum siebzehnten Lebensjahr in den Kliniken der Stadt Köln. Der Mediziner spricht von "multifaktoriellen Ursachen" für Zwangserkrankungen. Ganz am Anfang dieser Reihe steht eine genetische Veranlagung.
Ist die vorhanden, kann Stress, Druck in der Schule oder auch ganz normaler Teenagerkummer den Zwang ausbrechen lassen. Meist geschieht das zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr. Etwa ein bis zwei Prozent der Deutschen leiden unter Zwängen, unter Kindern ist der Waschzwang der häufigste. Auch das familiäre Umfeld müsse dabei berücksichtigt werden, sagt Wewetzer. Wächst ein Kind beispielsweise in einem stark kontrollierten oder penibel sauber gehaltenen Umfeld auf, kann das in eine Zwangserkrankung führen. Allerdings sei das eher selten der Fall, so der Kölner Psychiater.
Trotzdem stellt er fest, dass bei vielen seiner kleinen Patienten die Zwänge zu Hause viel stärker auftreten als bei einem stationären Aufenthalt in der Klinik. Daher machen Wewetzer und seine Kollegen auch Hausbesuche und üben dort mit den Kindern. Im Rahmen der sogenannten kognitiven Verhaltenstherapie werden die Patienten mit den für sie bedrohlichen Situationen konfrontiert und müssen sie aushalten, ohne die Zwangshandlung durchzuführen.
Mit einem Kind, das sich beispielsweise die Hände waschen muss, nachdem es eine Türklinke angefasst hat, wird Schritt für Schritt geübt, die Klinke zu berühren, ohne dem Waschzwang zu folgen. Laut Wewetzer merken die Patienten, dass das, was sie fürchten - nämlich an den Keimen auf der Türklinke zu erkranken - nicht eintritt. Zur kognitiven Verhaltenstherapie gehört auch, mit dem Erkrankten über genau diese Befürchtungen zu sprechen und darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass sie wahr werden. 80 Prozent seiner Patienten kann Wewetzer auf diese Weise erfolgreich behandeln. Der Zwang verschwindet und der Patient verhält sich wieder normal. Was ist aber mit den 20 Prozent, denen die Verhaltenstherapie nicht dauerhaft hilft?
Von dem Blick, mit dem man angeschaut wird, kann viel abhängen
Patrick landet mit 14 in der Psychiatrie. Seine Mutter hat das veranlasst, aus Überforderung und Hilflosigkeit - aber auch, weil sie glaubt, Patrick wolle die Familie mit seinem Verhalten zerstören. Sie hat den Jungen zehn Jahre lang alleine großgezogen, sein Vater verschwand als Patrick noch ein Baby war. Patrick beschreibt seine Mutter als labile Persönlichkeit, die ihren Sohn zu ihrem ganzen Lebensinhalt macht und ihn stark kontrolliert - aus übermäßiger Angst, ihm könne etwas passieren. Sie will ihrem Kind eine Familie bieten und heiratet. Der Zehnjährige muss sich mit einer vollkommen neuen und für ihn schwierigen Familiensituation zurechtfinden - und schafft es nicht. Er hätte mehr Unterstützung gebraucht, hätte ermutigt werden müssen, seine inneren Konflikte mitzuteilen, sagt Patrick.
Stattdessen habe ihn die Familie als verhaltensauffällig bezeichnet, als einen Tyrannen, der der Mutter das neue Glück nicht gönne. Auch sein restliches Umfeld betrachtet ihn als unnormal und krank. Mobbing und Ausgrenzung sind die Folge. Es geht soweit, dass Patrick schließlich die Schule wechseln muss.
In der Psychiatrie erfährt der Teenager, wie viel davon abhängt, mit welchem Blick man angesehen wird. "Wenn jemand neues auf die Station kam, haben wir uns einander mit Namen, Alter und dem Grund, weshalb jeder von uns da war, vorgestellt. Jeder konnte so sein wie er war. Es war ein Umfeld, in dem ich mich aufgehoben gefühlt habe. Erkrankungen waren hier nicht irgendetwas Unnormales", sagt Patrick.
Doch für die meisten Menschen ist er eben nicht normal. Auch nicht für die Therapeuten, denen er sich in den darauffolgenden Jahren anvertraut, um seinen Zwang endlich loszuwerden. Jeder - ob Verhaltenstherapeut oder Tiefenpsychologe - vermittelt ihm, dass er anders sein muss als er ist. "Unnormal" und "krank" werden zu identitätsstiftenden Merkmalen, die die Selbstliebe des jungen Mannes fast vollständig zerstören. Mithilfe der Therapien schafft er es einige Jahre, die Zwänge in Schach zu halten. Doch Patrick bleibt tief verunsichert - keine der Therapien hat daran etwas verändern können.
Als er mit 22 Jahren Vater wird, brechen die Zwänge erneut aus. Die Angst, dem kleinen Sohn kein guter Vater sein zu können, ihm gar Gewalt anzutun, lähmt ihn vollkommen und macht es ihm unmöglich, sich um sein Kind zu kümmern. Deshalb scheint ihm als letztes Mittel nur ein unkonventioneller Weg zu bleiben.
Nicht normal? Egal!
Patrick beginnt ein Selbsterfahrungstraining bei der Sozialpädagogin und Psychotherapeutin Rosmarie Lipp. "Süchte, Zwänge und andere psychische Erkrankungen sind häufig so schambesetzt, dass es erst mal wichtig ist, diesen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie geliebt werden, auch mit alledem", erklärt Lipp einen der wichtigsten Grundsätze ihrer Arbeit.
Sie spricht von einer der gesellschaftlichen Tendenz, psychische Probleme, zu tabuisieren. Jemand mit Zwängen oder anderen schwerwiegenden Problemen wird so schnell sozial isoliert. Lipp versucht in ihren Gruppen, die Grenze zwischen dem, was allgemein als normal und nicht normal gilt, irrelevant werden zu lassen, denn: jeder Mensch hat Begrenzungen. Anstatt diese möglichst zu verbergen, darf man sie hier offen zeigen und die ihnen zugrunde liegenden Verletzungen bearbeiten. "Wenn so ein Zwang in der Gruppe kein Problem für die anderen ist, merkt derjenige, dass er sein kann wie er ist, und entspannt sich - auch wenn er sich fünfmal die Hände wäscht. Das ist erst mal die Grundlage für Heilung", sagt Lipp. Außerdem versteht die Psychotherapeutin "jede Ausdrucksform des Lebens als etwas, was im großen Zusammenhang Sinn für den Menschen ergibt." So konnte Patrick nach und nach erkennen, was hinter seinem zwanghaften Verhalten steht: Es war der Versuch eines Kindes, das innere Chaos zu sortieren.