Zverev: Wenn nicht jetzt …
12. September 2020Zu den wirklich ätzenden Gefühlen, die ein Tennisspieler durchleben muss, gehört dieses: Man hat gut gespielt, sicher, aber der Gegner war besser und hat am Ende gewonnen. Knapp, aber doch verdient. Dennoch sind die eigenen Anhänger und Unterstützer voll des Lobes: "Tolle Partie. Irre Ballwechsel. Du kannst zufrieden sein." So Sachen hört man dann. Ätzend.
Zu leicht zu lesen, zu durchschaubar
Alexander Zverevs übellaunige Reaktionen auf solch verlorene Spiele sind Legende. Bei den US Open 2020 allerdings wird der Deutsche bislang überwiegend gut gelaunt auf der Anlage gesichtet. Er hat bislang nur gewonnen, steht im Finale und hat nun (an diesem Sonntag, 22 Uhr MESZ) beste Chancen, gegen seinen österreichischen "Buddy" Dominic Thiem eine Chance, seinen ersten Grand-Slam-Titel zu holen.
Bis hier hin war Zverev ein Mann, der - von seinem Sieg beim ATP-Finale in London 2018 abgesehen - in ihn gesetzte Hoffnungen bei den großen Turnieren regelmäßig nicht erfüllt hat. Wenn zum Beispiel der gegenwärtig verletzte Roger Federer Zverev unablässig als große Hoffnung im Welttennis bezeichnet, dann kann man das zumeist freundliche lächelnde Gesicht des Maestros aus der Schweiz ohne Zögern als Pokerface deuten. Federer kann sich über den Erfolg Zverevs freuen, da der Deutsche inzwischen zu den Schützlingen der Federer-Agentur "Team 8" zählt. Zugleich weiß aber gerade Federer, dass das Spiel des Deutschen für die Tennis-Profis an der Spitze zu leicht zu lesen, zu durchschaubar und am Ende auch zu fehleranfällig ist. Bislang.
Zweiter Aufschlag? Volle Pulle
In New York hat man zum Beispiel 41 Doppelfehler in Serie gezählt, weil der Deutsche dazu übergegangen ist, in Ermangelung eines verlässlichen zweiten Aufschlags das Ding teilweise mit über 200 km/H ins Feld des Gegners zu donnern. Fault? Egal. Und dann ist da noch die Sache mit der Mentalität. "Ich wollte das alles zu sehr. Ich habe es in den Grand Slams zu krampfhaft versucht", sagt der Blondschopf in New York selbst dazu. Kein Wunder, wenn man seit dem achten Lebensjahr zu hören bekommt, was man für ein wunderbarer Tennisspieler man einmal werden könnte. Zverev musste, wenn man so will, Abstand zu sich selbst nehmen.
In New York 2020, das man als Skeptiker als Grand-Slam-Muster ohne Wert bezeichnen könnte (kein Federer, kein Rafael Nadal, keine Zuschauer), hatte er gleich in der ersten Runde mit dem zähen Südafrikaner Kevin Anderson - immerhin ein Wimbledon-Sieger - eine der größeren Proben zu bestehen. Das enge Match entschied Zverev für sich. Und konnte sich danach leisten, mit eher mäßigem Tennis gegen eher mittelklassige Gegner bis ins Viertelfinale zu marschieren. Dort legte er beim 1:6, 7:6, 7:6, 6:3 gegen den Kroaten Borna Coric - auch so ein Langzeittalent - einen gruseligen ersten Satz hin und musste hinterher zu Protokoll geben: "Ich habe offensichtlich nicht gut gespielt." Und die beiden ersten, verlorenen Sätze im Halbfinale gegen den Spanier Pablo Carreno Busta, waren zum Vergessen.
Vorsicht vor höheren Wetteinsätzen
Nicht gut spielen und trotzdem gewinnen - das ist das Gegenteil jenes ätzenden Tennisspieler-Gefühls der Looser. So einer kann am Ende auch den Titel holen. Doch wer nun bereits mittelgroße Beträge auf den Deutschen setzen will, sollte an dieser Stelle vorsorglich gewarnt werden. Gegen Dominic Thiem dürfte sich ein mäßig spielender Zverev schwer tun.
Dieser Text wurde nach dem Halbfinale am Samstag, 12. September, aktualisiert.
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