Zurück nach Kundus - trotz Gefahr
22. Oktober 2015"Ich will auf keinen Fall nach Europa", sagt Haji Jamaluddin. Der 62-jährige ist aus Kundus geflohen, wo er Lehrer an einer Oberschule ist. Zusammen mit seiner Familie ist er in die afghanische Hauptstadt Kabul gekommen, um der Unsicherheit in seiner Provinz zu entfliehen. Er ist nicht der einzige. Im Stadtteil Sherpur steht ein Großteil von ihnen nun in einer langen Schlange an der Haltestelle Baraki. Sie warten darauf, dass sie zurück nach Kundus gehen können.
Nach der mehrere Tage andauernden Besetzung durch die Taliban ist die Stadt zwar wieder in der Hand der Regierung, aber das bedeutet nicht, dass die Sicherheit wieder vollkommen hergestellt ist. Die Kämpfe in den Vororten von Kundus gehen weiter.
Wenig Hilfe von der Regierung
Mehrere Busse mit Binnenflüchtlingen an Bord fahren täglich in den Norden des Landes. Aber nicht alle bekommen einen Platz. Bisher sind etwa 300 Familien mithilfe des Handelsministeriums zurückgebracht worden. Der Rest muss täglich an diese Haltestelle kommen und auf einen Sitzplatz hoffen. Harun Jan Aghaz wartet jeden Tag auf einen Anruf der Regierung. Bisher hatte er jedoch kein Glück. "Sie melden sich nur bei denen, die Macht und Geld haben. Anstatt uns zu helfen, setzen sie diese Flüchtlinge in einem Hotel im Kabuler Stadtteil Khairkhana ab. Wir bleiben hier mit unserem Hab und Gut auf der Strecke", beschwert er sich. Der 20-jährige wirft den Behörden Korruption vor.
Etwa 20.000 Familien haben nach Angaben des afghanischen Ministeriums für Flüchtlinge und Rückführung in den letzten Wochen Kundus verlassen und sind in die Nachbarprovinzen und nach Kabul geflüchtet. "Das Ministerium hat überhaupt kein Hilfs-Budget für die Binnenflüchtlinge", so der zuständige Minister Hossain Alemi Balkhi vor einigen Tagen bei einer Pressekonferenz. "Wir können ihnen weder Geld noch Lebensmittel oder eine Übernachtungsstätte bieten."
Einige afghanische Bürgerinitiativen und NGO's haben den Binnenflüchtlingen in den vergangenen Tagen Lebensmittel und Unterkünfte gestellt. Die, die nicht von Verwandten aufgenommen wurden, kamen zum Teil in Rohbauten unter. Einige Privat-Unternehmer stellten Zelte auf oder ließen die Flüchtlinge in ihren Wohnungen wohnen. So wie Hekmatullah Shadman aus dem südlichen Kandahar. Er kümmerte sich um zahlreiche Familien aus Kundus und mietete ein ganzes Gebäude in Kabul, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben.
Abschreckende Bilder aus Europa
Ich habe Vertrauen in unsere Provinz - aber meiner Regierung traue ich nicht", sagt Elham. Der schlaksige junge Mann ist 19 Jahre alt. "Die ältere Generation beschwert sich darüber, dass die Jugendlichen weggehen. Dabei sollten sie genau wie der Präsident erstmal ihre eigenen Familien nach Afghanistan zurückholen, bevor sie den jungen Leuten Vorwürfe machen." Elham selbst möchte das Land eigentlich nicht verlassen. Er setzt darauf, dass sich die fortschrittlichen Kräfte durchsetzen und junge Leute Arbeit finden. "Warum sollte ich dann gehen? Für uns Afghanen ist Afghanistan der schönste Ort."
Auch Sanaullah ist dieser Meinung. "Meine Familie hat beschlossen, nicht nach Europa zu gehen", erklärt er. "Im Internet habe ich gesehen, wie die Flüchtlinge behandelt werden und dass sie oft unter elenden Bedingungen hausen." Das habe ihn abgeschreckt.
"In Kundus ist es besser als in Kabul", sagt der 44-jährige Dawood voller Heimweh. Auch er zählt zu denen, die so schnell wie möglich wieder zurück in die Heimat möchten. Und eine Flucht weg aus Afghanistan und der Neuanfang in einem anderen Land? Beides ist für ihn unvorstellbar. "Sollte es nochmal dazu kommen, dass die Taliban zurückkommen, dann fliehen wir nicht mehr. Wir werden Waffen besorgen und uns wehren. Wir werden auch kämpfen. Was soll ich in Europa, lieber sterbe ich in meinem Kundus."
Sayed Amin Behrad aus Kabul hat zu diesem Artikel maßgeblich beigetragen.