Zum Tod der Schriftstellerin Mirjam Pressler
16. Januar 2019Ihren 75. Geburtstag verbrachte Miriam Pressler in der Sonne, auf der Ferieninsel Mallorca. Die Jugendbuchautorin war zum ersten Mal auf der Baleareninsel, ihre Familie hatte ihr die Reise geschenkt. "Das Meer ist so blau, der Himmel so weit/es gibt keine bessere Reisezeit", ein Satz von ihr aus dem Bilderbuch "Die Schnecke und der Buckelwal".
Für die jüdische Schriftstellerin, die am 18. Juni 1940 geboren wurde, war es zu diesem Zeitpunkt lebensnotwendig ein bisschen auszuspannen: von dem kräftezehrenden Geschäft des Bücherschreibens, vom professionellen Übersetzen und von ihrer schweren Krebserkrankung, die ihr zunehmend zu schaffen machte.
Im Alter von 78 Jahren ist Mirjam Pressler am Mittwoch (16.01.2019) im bayrischen Landshut gestorben, wie ihr Verlag Beltz&Gelberg mitteilte.
Literarische Gefühlsachterbahnen
Sie konnte auf eine stolze Lebensbilanz zurückblicken: über 50 eigene Bücher, Romane - vor allem Kinder- und Jugendbücher - und mehr als 400 Übersetzungen – aus dem Hebräischen, Niederländischen, Amerikanisch-Englischen und aus Afrikaans.
Darunter literarische Kaliber, wie John Steinbeck ("Von Mäusen und Menschen"), Zeruya Shalev ("Mann und Frau"), Aaron Appelfeldt ("Blumen der Finsternis") und immer wieder Bücher des israelischen Autors Amos Oz ("Unter Freunden", "Verse auf Leben und Tod").
Gleich für ihr Erstlingswerk, den Roman "Bitterschokolade" (1980), bekommt sie den renommierten Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Ein unerwarteter Geldsegen, der ihr das Schreiben ermöglicht. Die einfühlsame Geschichte um die dicke Eva, die all ihren Kummer in sich reinfrisst, erreicht eine Auflage von 400.000 Exemplaren; ein Erfolg den nur ihre Bücher über Anne Frank einholen.
Mirjam Pressler versteht die Nöte und Ängste von Kindern und Jugendlichen, kann sich intensiv deren Lebenswelten einfühlen. Ihre Hauptfiguren sind meist Außenseiter: die einsame Ilse, der verängstigte Herbert oder die mutige Hanna. Geschichten, die alles andere als eine heile Welt vermitteln. "Ich will keine Geschichten schreiben, in denen das einzige Problem ist, ob das Kind ein Pferd bekommt oder nicht", sagte sie einmal.
Freudlose Nachkriegskindheit
Die Welt, in die das Mädchen Mirjam im Juni 1940 in Darmstadt als uneheliche Tochter einer jüdischen Mutter hineingeboren wird, ist höchst problematisch. Sie wächst sie bei einer christlichen Pflegefamilie auf. Schon als Kind entdeckt sie für sich das Lesen und die wunderbare Welt der Bücher: "Das war die Zeit kurz nach dem Krieg. Wir waren sehr arm, haben abends kein Licht angemacht, um Strom zu sparen", erzählte sie vor ein paar Jahren im DW-Interview.
"Wir saßen dann immer in der Küche. Ich hatte vom Herd das Türchen aufgemacht, saß im Lichtschein des Feuers und habe meiner Pflegemutter Todesanzeigen aus der Zeitung vorgelesen." Bücher gibt es nicht in der Familie, Lesen gilt als Zeitverschwendung. Wegen der "Gefahr von Verwahrlosung", wie es im Amtsdeutsch der Nachkriegszeit heißt, kommt sie in ein Kinderheim.
Prügelstrafen und fortgesetzte Lieblosigkeit prägen ihre Kindheit. Sie liest mit Begeisterung Karl-May-Bücher, spinnt die Abenteuergeschichten weiter - wo sie geht und steht - um sich aus der geistigen Enge heraus zu phantasieren. Ein Internat, das Gymnasium in der Stadt und dann das ersehnte Sprachenstudium an der Akademie der Künste in Frankfurt ebnen ihr einen eigenen Weg.
1962 geht sie als junge Frau nach Israel, lebt und arbeitet dort in einem Kibbuz. Die Hochzeit mit einem Israeli, der in München lebt, bringt ihr kein Glück. Als alleinerziehende Mutter muss sie später ihre drei Töchter mit Gelegenheitsjobs durchbringen: sie jobbt als Taxifahrerin und eröffnet einen eigenen Jeansladen. Nachts schreibt sie Bücher.
Musikalische Übersetzerarbeit
Das Schreiben verschafft ihr zu ihrer Überraschung ein erstes finanzielles Fundament. Anfangs sind ihre Bücher stark autobiografisch geprägt. Daneben etabliert sie sich als ausgezeichnete Übersetzerin. Sie kann sich schnell in andere Lebenswelten und komplizierte Charaktere einfühlen und vergleicht ihre Übersetzerarbeit gerne mit der eines Musikers, der sich auch auf die Komposition eines anderen einstimmen muss.
Gegen Morgen fiel der erste Regen des Winters auf die Häuser des Kibbuz, auf die Felder und auf die Obstplantagen. Ein frischer Duft von nasser Erde und von blank gewaschenen Blättern erfüllte die Luft. Im frühen Morgen schwebte leichter Nebeldunst zwischen den Häusern, und auf den Blumen in den Anlagen glitzerten Wasserperlen. (aus: Amos Oz, Unter Freunden. Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler)
Ihre jüdische Herkunft motiviert die Autorin Pressler, sich verstärkt mit Erlebnissen von Jugendlichen im Dritten Reich, mit Naziverfolgten und dem Kinderschicksal im harten Überlebenskampf in Nachkriegsdeutschland zu beschäftigen.
Kinder und Jugendliche aller Altersklassen lieben ihre klare Art, schnörkellos und direkt zu beschreiben, wie schwer es manche Kinder damals hatten. Auf Lesungen vor allem in Schulen wurde sie immer bestürmt mit Fragen.
Kinderbücher für kleine Leselöwen
Ihr erster Kinder-Roman ist ein Wagnis für Pressler. Aber das Buch ("Wenn das Glück kommt, musst man ihm einen Stuhl hinstellen") wird gleich mehrfach ausgezeichnet. Ein Jahr später bekommt sie 1995 dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis, der mit 10.000 DM dotiert ist. Zwischendurch wagt sie sich an ihre ersten Kriminalromane ("Mit 64 stirbt man nicht", "Rosengift") und schreibt vergnügliche Bilderbücher für Vorschulkinder.
Auch der mehrfach aufgelegte Jugendroman "Malka Mai" (2001) bekommt auf Anhieb hervorragende Kritiken. Sie erzählt darin die ergreifende Geschichte eines siebenjährigen polnischen Mädchens, das sich in den letzten Kriegsjahren ganz allein durchkämpfen muss.
2007 widmet sich die Schriftstellerin Mirjam Pressler erstmals klassischen Motiven. Sie übersetzt Lessings berühmtes Drama "Nathan der Weise" als Jugendroman in die heutige Zeit. Und begeistert damit junge Leser für einen literarischen Stoff, der als Schullektüre früher nur müdes Abwinken bei den Schülern hervorgerufen hat.
Ihr Lebenswerk: "Das Tagebuch der Anne Frank"
Wie sonst niemand beschäftigt sich Mirjam Pressler immer wieder mit dem Schicksal eines jüdischen Mädchens, das Weltgeschichte geschrieben hat: "Das Tagebuch der Anne Frank" (1988) wird ihr wichtigstes Übersetzungswerk - aus dem Niederländischen ins Deutsche.
Kenntnisreich und einfühlsam schreibt sie 1992 ein Sachbuch über das Leben der jungen Jüdin Anne Frank ("Ich sehne mich so"), das bis heute ebenfalls als Schullektüre sehr beliebt ist. Zusammen mit dem Cousin von Anne, Buddy Elias, und dessen Frau Gerti, gibt Pressler 2009 auch die Familiengeschichte der Franks ("Grüße und Küsse an alle") als Buch heraus. Auch dies ein großer Erfolg.
Den größten Teil ihres arbeitsreichen Lebens ist Miriam Pressler der jungen Anne Frank verbunden geblieben. Ihr jüdisches Schicksal vor dem Vergessen zu bewahren, war ihr ein Herzensanliegen.
Späte Ehrung: Großes Bundesverdienstkreuz
"Ich gebe mich nicht der Illusion hin, Bücher könnten die Welt verändern", sagte sie vor ein paar Jahren im DW-Gespräch. "Aber für einzelne Menschen kann ein bestimmtes Buch eine wichtige, weltbewegende Bedeutung erlangen." Weltweite Übersetzungen des Tagebuchs der Anne Frank in über 70 Sprachen zeugen davon, dass ihr das nachhaltig gelungen ist.
Für ihr ambitioniertes literarisches Lebenswerk und als Anerkennung für ihren Einsatz für die deutsch-israelische Völkerverständigung hat Mirjam Pressler im Dezember 2018, noch kurz vor ihren Tod, das Große Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Es hat sie sehr stolz gemacht.
Das letzte Buch von Mirjam Pressler trägt den Titel "Dunkles Gold" und erscheint im März 2019 im Verlag Beltz&Gelberg. ISBN 978-3-407-81238-4, 17,95 Euro. (