Zulehner: "Kirche muss sich öffnen"
31. Juli 2014DW: Herr Zulehner, Kirche scheint auf dem Rückzug zu sein: Die Mitgliederzahlen sinken, es herrscht Priestermangel, Gotteshäuser müssen schließen. Wie sollen die christlichen Kirchen darauf reagieren?
Paul Zulehner: Es vielleicht gar nicht gut, vom Rückzug oder von der Krise der Kirche zu reden, sondern die Kirche steckt heute in einer tiefen Umbauphase. Nach der Reformation und der Gegenreformation mussten die Menschen entweder Protestant oder Katholik sein. Und das führte dazu, dass Europa zu 100 Prozent "durchmissioniert" war. Diese Zeit geht nun endgültig zu Ende. Religion ist, wie alles in unserem Leben, wählbar geworden: Man kann sich ein- und auswählen. In dieser Phase wird klarer, wer zur Kirche gehören will und wer nicht. Deshalb sollte man nicht von 100 Prozent herunterrechnen und in einem depressiven Katastrophenszenario leben, sondern von Null hinaufrechnen und fragen: Warum wählen sich Menschen unter den modernen kulturellen Bedingungen ins Evangelium ein? Warum machen sie in der Kirche mit? Auf diese neue Situation müssen sich die christlichen Kirchen in Europa vorbereiten.
Diese Entscheidung, die die Menschen treffen: Ist das eine Entscheidung für oder gegen die Religion - oder für oder gegen die Kirche?
Wir haben gelernt, dass diese Unterscheidung wichtig ist. Es gibt möglicherweise eine stellvertretende Leistung, die die Kirche in einer modernen Gesellschaft erbringen muss - zum Beispiel, sich Gedanken über die Transzendenz, über das Woher und Wohin des Lebens zu machen und den Menschen zur Seite zu stehen, wenn sich ihr Leben wendet wie bei Geburt oder Tod. Es ist heute völlig klar, dass Seelsorge präsent ist. Selbst in der Bundeswehr sind christliche Vertreter und auch muslimische Imame tätig, mit dem Argument: Immer wenn es an die Ränder der Gesellschaft geht, dann scheint es gut zu sein, wenn religiöse Kompetenz gegenwärtig ist. Nicht weil die Kirche über die Menschen herrschen soll - schon gar nicht moralisch - sondern weil sie einen Dienst leistet, den sonst kaum jemand in der Gesellschaft zustande bringt.
Gibt es bei diesen Dienstleistungen Schwachstellen?
Auch wenn man sich in Zeiten des Umbaus eher an Stärken orientieren sollte, so sind doch zwei Defizite deutlich: Das eine Defizit betrifft die Sprache. Um die Predigt eines Pfarrers oder die Stellungnahme eines Bischofs zu verstehen, sollte man nicht einen theologischen Fernkurs belegt haben müssen. Das müssen auch Menschen verstehen, die die Bild-Zeitung lesen. Papst Franziskus, der als Erzbischof gewohnt war, sich in den Favelas von Buenos Aires verständlich zu machen, besitzt diese Kompetenz und redet in einer neuen Sprache. Im "Evangelii gaudium" - seiner "Regierungserklärung", wenn man das so bezeichnen will - schreibt er, dass die Priester eine neue Sprache lernen müssen, um den Schatz des Evangeliums in unsere heutige Kultur "hineinzusingen". Ich glaube, dass zu viele Prediger heute einfach rituell-katechistische Sätze verwenden, ohne tief in die Sorgen und Nöte der Menschen einzudringen.
Und das zweite Defizit?
Es fehlen aufnahmebereite Erfahrungsräume für Menschen, die sich auf der Suche befinden. Unsere kirchlichen Gemeinschaften sind geschlossene "In-Groups", bürgerliche satte Gruppierungen, bei denen das Leben meistens ganz gut funktioniert. Hingegen sind hier kaum Arbeitslose anzutreffen, auch Geschiedene rutschen häufig raus. Das ist eine Kirche, die abwartet, ob jemand hereinkommt - und wenn jemand hereinkommt, fühlt er sich zunächst fremd, weil sie so geschlossen ist. Aber eine geschlossene Kirche, die nicht gastfreundlich ist, die nicht hinausgeht an die Ränder der Gesellschaft, die nicht bei den Armen auftaucht, wird selber krank.
Wenn man Menschen an den Rändern der Gesellschaft näher kommen will, muss man präsent sein. Im Moment werden Kirchengemeinden aus Personalmangel zusammengelegt, Kirche entfernt sich also eher. Wie will man diesen Widerspruch auflösen?
Was wir beobachten, ist das "Downsizing" einer vergehenden Kirchengestalt. Man fährt sie so weit herunter, dass man sie personell bestücken und finanziell tragen kann. Das eröffnet überhaupt keine Zukunft. Es muss entschiedene Menschen geben, die Projekte ins Leben rufen, Menschen, die beispielsweise fragen: Was tun wir für Familien mit Migrationshintergrund, deren Kinder die deutsche Sprache nicht so gut sprechen, weil die Mütter nicht gut Deutsch können und es in den Kindergärten zu wenig forciert wird? Wie können wir uns als Christen mit ihnen solidarisch erklären? Solche Projekte hängen nicht von der Größe der Pfarrei ab sondern von Menschen, die darin eine Herausforderung sehen. An solche Projekte kann man auch Personen binden, die überhaupt nicht zur Kirche gehören. Indem sie mit Christen kooperieren, lernen sie praktiziertes Evangelium kennen - und irgendwann, wenn es die Gnade Gottes will, werden auch sie die Frage stellen: Warum macht ihr das? Aus welchen Quellen schöpft ihr? Warum seid ihr so widerständig, wenn es Schwierigkeiten gibt?
Wo sehen Sie die katholische Kirche in zehn Jahren?
Es herrscht zurzeit von der Zentrale der Kirche, von Rom herauf über die Alpen, ein unglaublich starker Südföhn. In unseren Ortskirchen sitzen aber viele in den Lehnstühlen und fragen sich, ob dieser Wind nicht schnell vorübergeht - statt dass sie die Segel spannen. Franziskus hat meines Erachtens noch viel zu wenig Gefolgschaft, es ist ihm noch nicht gelungen, dass der Wind des Heiligen Geistes in den Segeln der Ortskirchen knattert - richtig knattert! - und die Kirchen in Fahrt bringt. Wir sind immer noch in der Abwehr gegen den Niedergang, statt dass wir zusammen mit diesem Überraschungspapst den Kurs wechseln und in den neuen Aufbruch hinein steuern.
___________________
Paul Zulehner war bis 2008 Professor für Pastoraltheologie an der Uni Wien. In seinen Publikationen hat er sich unter anderem mit Fragen des Gemeindelebens und der Zukunft der Kirchen beschäftigt.