Zu Fuß durch Deutschland in 50 Tagen
18. September 2017Deutsche Welle: Anfang August ging es bei Ihnen los, wir erreichen Sie an Tag 43. Da haben Sie bestimmt schon viele Landschaften gesehen und sind auch vielen Menschen begegnet: Wie tickt Deutschland denn vor der Bundestagswahl?
Andreas Teichmann: Politik nimmt man vor einer Wahl vor allem durch Wahlplakate und durch Wahlveranstaltungen wahr. In den ersten Wochen habe ich fast überhaupt keine Wahlplakate und auch kaum Wahlstände gesehen. Im Osten war es dann extrem. Besonders der Wechsel von Hessen nach Thüringen. Da habe ich zunächst gar nicht die Landesgrenze gesehen, sondern plötzlich NPD- und AfD-Wahlwerbung. Da war ich platt, dass man anhand der Wahlwerbung erkennen konnte, dass man in einem anderen Bundesland ist. Das kann auch Zufall gewesen sein, aber so hatte ich das in Nordrhein-Westfalen und Hessen vorher nicht wahrgenommen.
Ist Politik für die Menschen, denen Sie begegnet sind, überhaupt ein Thema gewesen?
Die meisten, die ich getroffen haben, sind mit ihren politischen Interessen sehr da, wo sie leben. Da geht es darum: Wird der kleine Bachlauf im Dorf gestaut oder nicht? Gibt es das neue Schützenhaus für die freiwillige Feuerwehr? Wird der Kommunalverband Geld für eine Straßenumleitung zuschießen? Für die Leute ist eher das Kleine in ihrem Bereich wichtig. Das meiste dreht sich um lokale Bedürfnisse.
Da gab es für mich in Thüringen ein Schlüsselerlebnis mit einem jungen Mann auf einem Traktor. Ich habe ihn gefragt: "Du bist doch ein Kind der Wiedervereinigung. Was sagst Du zu dem Land?" Er sagte, er sei noch nie aus Thüringen herausgekommen und findet es eigentlich klasse hier. Er hatte gerade seine Prüfung zum Landwirt abgeschlossen und eine feste Anstellung. Alle seine Freunde kommen aus dem Dorf und das reicht ihm. Das war eine Zufallsbegegnung, aber ich glaube, dass die meisten Menschen denen ich begegnet bin, so lokal denken.
Wird im Osten und Westen anders über Politik gesprochen?
Im Ort Grimme sagte ein Mann zu mir, dass man heute ja niemandem mehr trauen könne - genauso wie früher. Da kursieren viele Verschwörungstheorien. Das habe ich im Osten zweimal erlebt. Und die Menschen in den östlichen Bundesländern vergleichen ihre Situation oft mit jener vor der Wiedervereinigung. Das bezieht sich vor allem auf den sozialen Bereich: 'Früher war die Dorfgemeinschaft noch in Ordnung, da gab es hier noch einen Bäcker, damals hat man sich noch geholfen und jetzt hauen alle ab, weil es keine Arbeit gibt.'
Ich würde das nicht Ostalgie nennen. Da ist eher so eine Wehmut nach einer heileren Welt. Ich habe im Osten viel mehr Verfall gesehen. Da sind Häuser vererbt worden, die sind nichts mehr wert. Die Leute lassen sie dann verrotten. Wie ein Grab, das keiner mehr pflegt.
Wie ist denn die Idee zu Ihrem Projekt "50 days" entstanden?
Ich habe immer wieder dieses Gefühl gehabt: 'Du musst Deutschland mal zu Fuß kennen lernen, um das wirklich zu erspüren'. Im vergangenen Jahr habe ich dann einen Artikel über Bertram Weisshaar in der "Süddeutschen Zeitung" gelesen. Er nennt sich selbst Spaziergangsforscher und ist der Begründer des "Denkwegs". Er hat versucht, nicht mehr diese romantischen Wanderungen zu machen, sondern an Unorte zu gehen. Also an Orte, zu denen man unter normalen Umständen nie wandern würde, weil sie nicht ästhetisch schön sind. Weisshaar ist von Aachen nach Zittau gelaufen. Ich habe mir die Route angeschaut und mir gesagt: "Wenn du das machst, dann nimmst du auch diese Achse."
Welche Rolle hat die anstehende Bundestagswahl bei Ihrem Vorhaben gespielt?
Es war klar, dass ich in den Sommermonaten unterwegs sein würde, weil man da weniger Gepäck dabei hat. Da kam mir die Idee, dass das doch ganz mit der Bundestagswahl gut zusammenpassen würde, denn ich wollte ja eine visuelle Untersuchung des Landes vornehmen, eine Art "visual investigation".
Ich bin kein Dogmatiker, aber wenn man mal eine Distanz gelaufen ist, die länger als zehn Kilometer ist, dann ist das faszinierend. Es ist eine andere Art der Wahrnehmung der Umgebung. Mit jedem Schritt verändert sich etwas, und wenn das auch noch eine fremde Gegend ist, dann ist jeder Eindruck neu. Das ist erfassbar, weil man nicht mit dem Zug durchrattert oder mit dem Auto daran entlangrast. Sie können innehalten. Man sieht plötzlich, wie unterschiedlich die Topografie ist, wie unterschiedlich die Dächer gedeckt sind. Das schult das Auge und das war die Idee.
Ist Deutschland schöner als Sie dachten?
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Deutschland ist auf jeden Fall ein wahnsinnig vielfältiges Land. Die größte Überraschung war für mich, wie groß es wirklich ist. Das erfasst man erst durchs Laufen, weil man da an Orte kommt, die man sonst nie sehen würde. Mir war auch nicht bewusst, wie viel Fläche es gibt. In Sachsen gibt es ganz wenige Stromleitungen. Im Ruhrgebiet, wo ich herkomme stehen sie überall. Im Osten sieht man viel Landschaft und alles ist sehr kultiviert, sei es durch die Landwirtschaft oder durch Menschenhand verschönert.
Andreas Teichmann ist seit mehr als 25 Jahren als Fotograf unter anderem für die Zeitschriften Spiegel, Stern und Mare tätig. Teichmann hat an der Folkwang Universität der Künste Design studiert und ist Träger verschiedener Fotopreise. Sein Projekt "50 days" kann im Netz unter http://50days.de nachverfolgt werden.
Das Interview führte Nastassja Shtrauchler