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Zeruya Shalev: "In Israel sind wir alle Überlebende"

Sabine Kieselbach25. Dezember 2015

Zeruya Shalev ist eine der bekanntesten Schrifstellerinnen Israels. Ihre Romane landen regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Ein Gespräch über die Schwierigkeiten des Schreibens und ihren Umgang mit Schmerz.

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Zeruya Shalev israelische Schriftstellerin
Bild: picture alliance/Sven Simon/A. Waelischmiller

"Schmerz": Eine Begegnung mit Zeruya Shalev

DW: Der Titel Ihres neuen Romans lautet "Schmerz". Welche Art von Schmerz ist damit gemeint?

Zeruya Shalev: Das Buch handelt von körperlichem, aber auch von seelischem Schmerz. Der körperliche Schmerz kommt durch einen Terroranschlag, den die Hauptfigur meines Buchs, Iris, zehn Jahre vor Beginn der Geschichte überlebt hat. Plötzlich kommt der Schmerz wieder – und als sie deswegen einen Spezialisten aufsucht, trifft sie ihre Jugendliebe wieder, den Mann, der sie mit 17 verlassen hatte. Das ist der seelische Schmerz.

Einige Kritiker nennen Sie – und zwar schon, bevor dieses Buch erschien – die Schmerzensmeisterin. Wissen Sie, was damit gemeint ist?

(Lacht.) Ja, ich glaube schon. Meine Bücher haben etwas Düsteres, weil mich die seelischen Abgründe besonders interessieren. Da geht es immer um Krisen, um schmerzhafte Prozesse. Aber ich versuche immer, meine Figuren daran wachsen zu lassen, und ich denke, dass sie am Ende des Buches weniger leiden. Wissen Sie, ich leide ja mit meinen Figuren. Ich erinnere mich, dass mein Sohn eines Tages von der Schule kam und mich weinend über der Tastatur fand. Er war ganz erschrocken und fragte, was los sei. Ich sagte nur: Mach dir keine Sorgen, es geht um die Frau im Buch, ihr geht's so schlecht, und da sagte er: Aber du bist doch Schriftstellerin, dann beende doch ihr Leid und mach sie glücklich.

Auch Iris muss einen schwierigen Weg gehen, bis sie so etwas wie Glück erkennt in ihrem Leben. Ein Szenario, dass uns vertraut ist aus Ihren früheren Romanen. Israel hat in diesen Büchern keine große Rolle gespielt, in "Schmerz" ist das anders.

Iris ist meine israelischste Figur, weil sie ein Opfer des Lebens in Israel ist. Ihr Vater starb im Krieg 1973, sie selbst wurde Opfer eines Anschlags, und ihr Sohn muss bald in die Armee eintreten, der Albtraum jeder israelischen Mutter. Trotzdem ist Iris sehr stark, sie will auf keinen Fall Schwäche zeigen, vor allem nicht gegenüber ihren Kindern. Das ist so typisch für Israel, bloß kein Mitleid – auch Iris ist eine Überlebende, wie so viele von uns in Israel.

Mehr als in jedem anderen Roman hat Ihre Protagonistin Parallelen mit Ihrem eigenen Leben, vor allem die, dass Sie beide Opfer eines Anschlags wurden. Wie erklären Sie Ihren Lesern, dass es nicht Sie selbst sind, über die Sie schreiben?

Ja, tatsächlich denken manche Leser, das ganze Buch sei autobiografisch. Aber das ist es nicht, im Gegenteil, die einzige Parallele zwischen mir und Iris ist die Verletzung durch den Terroranschlag. Bei Iris sind aber die Folgen innerhalb der Familie sehr viel dramatischer, auch die Auswirkungen auf ihre Seele und ihren Körper. Ich hatte mir ursprünglich selbst versprochen, dass ich diesen Anschlag, den ich überlebt habe, auf keinen Fall literarisch verarbeiten wollte. Als zehn Jahre vergangen waren, tauchte das Thema plötzlich auf. Durch den zeitlichen Abstand wurde der Stoff, wurde die Geschichte des Anschlags die Geschichte von Iris. Ich konnte nicht widerstehen.

Es gibt gerade eine dritte Intifada in Israel, fast jeden Tag stirbt ein Opfer dieser Messerattacken. Wie leben Sie damit?

Wir hatten zwei relativ ruhige Jahre, in denen ich mich allmählich wieder sicher gefühlt und von meinem Trauma erholt habe. Als die Messerattacken anfingen, kam alles wieder hoch, die Erinnerungen, auch die Bilder. Auch wenn ich nur mal um die Ecke einkaufen gehe, nehme ich Pfefferspray mit, um mich zu schützen. Die Messerattacken sind ein täglich stattfindender Albtraum. In Europa wird nicht viel darüber berichtet, weil ein Messer im Vergleich zu den schrecklichen Anschlägen von Paris so klein wirkt. Aber auch ein Messer kann töten.

Sie haben die Anschläge von Paris erwähnt. Das war der erste Selbstmordanschlag in Europa. Sie als Israelin sind leider sehr vertraut mit dieser Art von Anschlägen, seit vielen Jahren. Haben Sie an die Europäer einen Rat, wie man auf diese Art des Terrors reagiert?

Es macht mich sehr traurig, dass diese Form des Terrors nun auch auf Europa übergegriffen hat. Jahrzehntelang war es dort friedlich, und ich hoffe, das bleibt so. Den einzigen Rat, den ich geben kann, ist der: weitermachen. Routine ist hilfreich. Auch wenn man natürlich belebte Plätze meiden sollte. Europa sollte auch weiterhin offen bleibe für all die Unschuldigen, Muslime, Christen, Juden, die dort leben wollen. Aber die Demokratien müssen sich auch verteidigen und eine klare Trennung aufzeigen zwischen den zerstörerischen Kräften und all den anderen. Ich hoffe, Europa ist damit erfolgreich.

Sie haben in einigen Interviews erklärt, dass Sie – als Sie 2004 den Terroranschlag erlebt haben -, dem Bösen begegnet sind. Was ist das Böse?

Das Böse ist der Wunsch, zu töten und der Wunsch zu sterben. Und der Wunsch, so viele Menschen wie möglich mit in den Tod zu reißen, Unschuldige, Menschen, die nichts getan haben, die niemandem geschadet haben, die einfach verschwinden sollen. Das ist für mich eine Art von satanischer Transformation, die Menschen durchlaufen können. Das wirklich Böse. Ich glaube, es spielt überhaupt keine Rolle, ob jemand gelitten hat oder arm ist oder sich nicht anerkannt fühlt. Man kann so ein Verhalten weder akzeptieren noch verstehen. Es gibt viele Möglichkeiten, mit Frustration oder anderen Problemen umzugehen. Aber man muss sicher nicht Terror, Gewalt und Zerstörung verbreiten. Das ist verboten, Gott verbietet das. Und es schwer zu glauben, dass diese Grausamkeiten im Namen Gottes geschehen.

Das Gespräch führte Sabine Kieselbach.

Zeruya Shalev, 56, hat bisher sechs Romane geschrieben, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden. Ihre Bücher erreichen allein in Deutschland eine Millionenauflage. Der jüngste Roman, "Schmerz", ist 2015 erschienen. Die Hauptfigur Iris hat einen Selbstmordanschlag schwer verletzt überlebt – so wie die Autorin selbst. Zeruya Shalev entkam 2004 nur knapp einem Bombenattentat.