Zersplitterung oder Aussöhnung im Irak?
6. März 2010Die Parlamentswahlen im Irak gelten als entscheidende Weichenstellung. Doch die Menschen im Zweistromland haben wenig Hoffnung, dass die Politiker sich in der kommenden Legislaturperiode mehr um ihre Belange kümmern werden. Knapp sieben Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins sind die Strom- und Wasserversorgung immer noch in einem desolaten Zustand, die Sicherheitslage ist zwar etwas besser, aber nicht gut, es gibt kaum Jobs und die Korruption hat ein ungekanntes Ausmaß erreicht. Doch den Politikern geht es um die Macht im ölreichen Irak. Und die will der gegenwärtige Premierminister Nuri al-Maliki, der die Liste mit dem irreführenden Namen "Rechtsstaat" anführt, nicht abgeben. Er habe hart gearbeitet, um den Staat aufzubauen, sagte er. "Wir werden nicht zulassen, dass er den Launen derer zum Opfer fällt, die nur die Macht ergreifen wollen."
Regierung ohne Staat
Das Problem im heutigen Irak sei jedoch, dass es keinen Staat gebe, meint Joost Hiltermann, Vizedirektor des Nahost-Programms der International Crisis Group. "Es gibt eine Regierung, aber keinen Staat." Der Irak benötige dringend funktionsfähige Institutionen, die von der Regierung kontrolliert würden. Doch heute geht es mehr denn je um an Personen gebundene Macht, untermalt von konfessionellen Untertönen. Auch wenn die Parteien das zuvor hervorgehobenen Prädikat "islamisch" jetzt lieber vertuschen, weil das bei der Mehrheit der 28 Millionen Iraker nicht mehr so gut ankommt. Standen sich bei den Wahlen 2005 noch drei große konfessionelle Blöcke gegenüber – Schiiten, Sunniten und Kurden – so ist die politische Landschaft heute wesentlich fragmentierter. Der irakische Soziologe Faleh Abdul-Jabbar erklärt, interne Zerwürfnisse innerhalb der Kurden, der Sunniten und der Schiiten hätten eine Vielzahl von Kräften hervorgebracht. "Die Zersplitterung ist so groß, es ist quasi ein Krieg 'jeder gegen jeden'." Und weil Kompromissbereitschaft nicht gerade eine Stärke irakischer Politiker sei, könnte die Regierungsbildung schwierig werden.
Droht ein Patt?
Einen klaren Sieger wird es wohl nicht geben. Favoriten für die stärkste Fraktion im Parlament sind Umfragen zufolge al-Malikis Liste oder das ebenfalls überwiegend schiitische und vom Iran unterstützte Irakische Nationalbündnis um Ammar al-Hakim und Moktada al-Sadr. Auch Irakyia unter der Führung des Schiiten Iyad Allawi werden Chancen eingeräumt. Allawis Liste ist die einzige säkulare Allianz, in der auch namhafte Sunniten vertreten sind. Die Kurdenliste dürfte bei der Koalitionsbildung das Zünglein an der Waage bilden, schon alleine um der künftigen Regierung mit einer breiteren konfessionell-ethnischen Basis mehr Legitimität zu verleihen.
Der lebhafte Wettbewerb und die Kandidatenvielfalt machen die junge Demokratie im Irak aus. Doch Abdul-Jabbar warnt, sie habe kaum Ähnlichkeit mit dem europäischen Demokratiemodell: "Wir haben hier eine Situation, in der keiner dem anderen seinen Willen aufzwingen kann. Wir haben ungefähr neun Möchte-Gern-Diktatoren, aber sie sind alle ungefähr gleichstark." Das sei die positive Seite der Zersplitterung. Auch die Wähler gäben ihre Stimme nach wie vor überwiegend unter konfessionellen Gesichtspunkten ab, bis zu einer Parteiendemokratie sei es also noch ein weiter Weg.
Wenig Kompromissbereitschaft
Weil die Schiiten die Bevölkerungsmehrheit stellen, dürfte am Ende ein Schiit mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Fraglich ist nur, wie die vielen Möchte-Gern-Diktatoren zu einer tragfähigen Koalition finden. Joost Hiltermann von der International Crisis Group schaut deshalb besorgt auf die Zeit nach den Wahlen, denn das Koalitionsgefeilsche könnte sehr lange dauern. Er habe vor allem Angst, dass die politischen Eliten irgendwann aufhörten, miteinander zu reden und stattdessen zu Straßenkämpfen übergingen. "Sie haben alle bewaffnete Milizen oder Teile der Armee unter ihrer Kontrolle. Die Armee könnte daran schlimmstenfalls zerbrechen."
Zeitlich könnte ein solches Szenario mit dem Abzug der US-Kampftruppen zusammenfallen, die bis Ende August den Irak verlassen wollen. Eine prekäre Situation. Auch deshalb will Washington sicherstellen, dass die Lage nach den Wahlen stabil genug bleibt für einen geordneten Abzug. Andere Nachbarstaaten verfolgen ihre eigenen Prioritäten. Der Iran, der heute den größten Einfluss hat, wünsche sich eine Teheran-freundliche Regierung, die gegen die Amerikaner sei, meint der Soziologe Abdul-Jabbar. Die dürfte hingegen Saudi-Arabien ein Dorn im Auge sein. Alle, auch die Türkei und Syrien, hoffen auf ein relatives Maß an Stabilität in Bagdad. Aber der Irak sollte keinesfalls so stark werden, dass er in Zukunft eine Bedrohung darstellen könnte.
Autorin: Birgit Kaspar
Redaktion: Thomas Latschan