Zensus 2022: Warum Millionen Menschen befragt werden
14. Mai 2022Wo wohnt wer wie in Deutschland? Und überhaupt: Wie viele Deutsche gibt es eigentlich, und wie alt sind sie im Durchschnitt? Wo leben besonders viele Singles oder Senioren? Wo gibt es wie viele Wohnungen, Krankenhäuser - wo herrscht Mangel?
Der Zensus 2022 sei so etwas wie "eine Inventur im Supermarkt", sagt Stefan Dittrich im Telefoninterview mit der DW. Dittrich ist fachlicher Projektleiter des Zensus' 2022 beim Statistischen Bundesamt. Er und sein 50-Leute-Team sind so etwas wie die Modellentwickler der anstehenden Volkszählung, die am 15. Mai beginnt.
Die erhobenen Daten sollen die wirtschaftliche, demografische und soziale Struktur der Gesellschaft in Deutschland offenlegen und Aufschluss darüber geben, wo politischer Handlungsbedarf besteht. Der letzte Zensus im Jahr 2011 hatte für Überraschungen gesorgt. Die damalige Generalinventur ergab, dass in Deutschland rund 1,5 Million Einwohner weniger lebten, als angenommen.
Eigentlich sollte der Zensus schon im vergangenen Jahr stattgefunden haben; also im vorgesehenen 10-Jahres-Rhythmus. Wegen der Corona-Pandemie musste die Befragung aber auf 2022 verlegt werden.
Ein Zensus für die Demokratie von der Demokratie
Nicht nur für Städte und Gemeinden seien die Daten wichtig. Auch für die Politik, erläutert Dittrich: "Wir brauchen die genaue Bevölkerungszahl zum Beispiel für die Einteilung der Wahlkreise und die Stimmenverteilung im Bundesrat." Wie viele Sitze ein Bundesland in der Länderkammer erhält, definiert sich über die Einwohnerzahl in den Bundesländern, die aber erst einmal genau ermittelt werden muss.
Der Zensus basiert auf EU-Recht. Viele Fragen sind deshalb schon vorgegeben. Den Rest legt der Bundestag fest "und nicht die Statistiker", wie Dittrich erläutert. Zum Beispiel die Fragen nach den Wohnverhältnissen. Es gibt in Deutschland kein einheitliches Verwaltungsregister, das den Bestand an Wohnungen und Gebäuden flächendeckend erfasst. Deshalb fragen die Statistiker - im Auftrag der Politik - gerade in diesem Bereich genauer nach.
Denn schon lange ist klar: In Deutschland fehlen Wohnungen. Neu ist, dass erstmals auch die Nettokaltmiete, die Dauer und der Grund für einen Wohnungsleerstand sowie der Heizungstyp abgefragt werden. "Jeder kann sicherlich nachvollziehen, dass diese Frage im Moment sehr aktuell ist und für eine bessere Planung in der Zukunft helfen wird", sagt Dittrich.
Wer wird befragt?
Nicht alle schätzungsweise 83 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, werden befragt. Das ist nicht nötig, weil die Statistiker viele Daten aus den Verwaltungsregistern ermitteln können, wie zum Beispiel dem Melderegister. Dort ist festgehalten, wer wo wohnt.
Rund 10,3 Millionen Menschen werden ausführlicher befragt; auch von den rund 100.000 sogenannten Erhebungsbeauftragten bei Besuchen an der Haustür. "Wir versuchen, den Kontakt mit den Interviewern so gering wie möglich zu halten", versichert Projektchef Dittrich. Viele Daten könnten auch per Mail oder Post nachgereicht werden. Mitmachen muss jeder, der dazu aufgefordert wird, denn die Deutschen haben beim Zensus eine Auskunftspflicht und müssen mit einem Zwangsgeld von 300 Euro rechnen, wenn sie dieser nicht nachkommen.
Dabei müssen die Bürger nicht ihren Kontostand oder ihre Fernsehgewohnheiten preisgeben. Aber Daten wie Geschlecht, Familienstand und Geburtsdatum werden abgefragt. Auch zu Beruf, Bildungsstand, Staatsangehörigkeit und der Wohnungssituation wird ausführlicher nachgefragt. Zudem sollen alle etwa 23 Millionen Eigentümerinnen und Eigentümer Informationen zu Wohnungen und Gebäuden liefern.
Die Skandinavier machen es - wieder einmal - besser
Doch warum eigentlich eine Befragung an der Tür im Zeitalter der Digitalisierung und umfassenden Datenerhebung? Weil in Deutschland über die vorhandenen Register nicht alle wichtigen Daten erhoben werden. Damit liegt Deutschland - international betrachtet - im Mittelfeld.
Vorreiter seien die skandinavischen Länder, erklärt Volkswirt Dittrich vom Statistischen Bundesamt. Dort gebe es eine einheitliche Personenidentifikationsnummer: "Das heißt, überall wo sie mit dem Staat in Kontakt treten - beim Studienplatz, dem Einwohnermeldeamt oder der Anmeldung eines Autos - geben sie ihre persönliche Identifikationsnummer an." In Skandinavien, aber auch in Österreich und Estland, müssten die Statistiker lediglich die verschiedenen Registerquellen zusammentragen.
Deutschland hingegen habe ein "Mischmodell". Also bestimmte Quellen - wie zum Beispiel das Melderegister - würden genutzt; müssten aber durch Befragungen ergänzt werden, erläutert Dittrich. Am Ende der Skala stehe der anglo-amerikanische Raum. Dort findet im Regelfall noch die Befragung an der Tür statt, weil es keine Wohnmeldepflicht gibt. "Die Kommune erfährt gar nicht, dass ich dorthin ziehe", sagt Dittrich.
Noch in den 1980er Jahren führte die damals von der westdeutschen Regierung geplante Volksbefragung zu heftigen Protesten. Der Bundestag in Bonn hatte 1983 ein sogenanntes Volkszählungsgesetz auf den Weg gebracht, gegen das viele Menschen Sturm liefen. Das lag einerseits daran, dass die geplante Volkszählung viele Menschen an die systematische Erfassung von Daten - wie zum Beispiel der Religionszugehörigkeit - an die Methoden der Nazis erinnerte. Aber auch daran, dass der Datenschutz nicht ausreichend sichergestellt war. Das höchste Gericht in Deutschland, das Bundesverfassungsgericht, stoppte das Projekt mit dem sogenannten Volkszählungsurteil . Vor dem Urteil von 1983 war es zum Beispiel noch möglich, die personenbezogenen Daten, die im Rahmen der Volkszählung erhoben wurden, an die Kommunen zurückzuspielen. Dies ist nun nicht mehr erlaubt. Unter neuen rechtlichen Rahmenbedingungen fand die Volkszählung erst 1987 statt.
Heute regt sich kein größerer Widerstand mehr gegen den anstehenden Zensus. Das liegt wohl auch daran, dass sich der Umgang mit Daten durch Google, Amazon, PayPal und anderen Konzernen drastisch verändert hat. Die Skepsis in Bezug auf Datenerfassung hat abgenommen. Fachmann Dittrich sagt es so: "Gerade, wenn man vergleicht, was man alles bei einem Online-Kauf von sich preisgibt, sind die Fragen, die wir im Rahmen eines Zensus stellen, vergleichsweise bescheiden."
Rund 1,5 Milliarden Euro wird der Zensus 2022 kosten. Ob die Erkenntnisse tatsächlich so viel Wert seien, unterliege der "persönlichen Bewertung, wie viel einem beispielsweise eine gute Datengrundlage für die politischen Entscheidungen oder Stimmengewichtung im Bundesrat wert sei", sagt Stefan Dittrich vom Statistischen Bundesamt. Beurteilen können wird man das erst Ende 2023. Dann ist nämlich mit den Ergebnissen des Zensus 2022 zu rechnen.