Zehn Jahre Cablegate: ungeschönte US-Außenpolitik
28. November 2020Der Blitz schlug ein am 28. November 2010. Fünf westliche Leitmedien begannen zeitgleich, Geheimnisse aus dem Maschinenraum der Washingtoner Diplomatie zu veröffentlichen. Ihr Rohmaterial: Genau 251.287 meist vertrauliche und geheime Dokumente aus dem Außenministerium der Supermacht, die ein ungeschöntes Bild der US-Außenpolitik boten. Zusammengetragen hatten sie amerikanische Botschaften in aller Welt. Zugänglich gemacht hatte die Botschaftsdepeschen, im Englischen "diplomatic cables" genannt, die Enthüllungsplattform Wikileaks. Noch nie zuvor waren so viele Geheimnisse auf einmal in die Hände von Journalisten gelangt.
Deutscher Partner von Wikileaks war das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", der von einem "GAU für die US-Außenpolitik" schrieb. Immerhin konnte man unter anderem belegen, dass Washington seine Diplomaten anwies, Mitarbeiter der Vereinten Nationen auszuspionieren, inklusive des Generalsekretärs, breit angelegt von biometrischen Daten bis hin zu Flugmeileninformationen. Nachzulesen war, wie arabische Staaten Luftangriffe auf iranische Atomanlagen forderten, dass Peking die Geduld mit Nordkoreas Diktator Kim Jong Un ausging - und viele wenig schmeichelhafte Einschätzungen der führenden Politiker in den Gastländern der US-Diplomaten.
Kritik wegen Datenpanne
"Die Botschaftsdepeschen waren aus unserer Sicht ein Höhepunkt der Wikileaks-Enthüllungen 2010", erinnert sich Spiegel-Journalist Marcel Rosenbach im Gespräch mit der DW. Julian Assange hatte Wikileaks zwar schon 2006 gegründet. Der große Durchbruch kam aber erst 2010. Die Botschaftsdepeschen wurden anfangs nur stückweise über die Medienpartner von Wikileaks veröffentlicht. Wegen einer Datenpanne ist seit Herbst 2011 aber das gesamte Cablegate-Material der Öffentlichkeit zugänglich, ohne dass etwa Namen von Gesprächspartnern der US-Diplomaten geschwärzt wären. Wikileaks hat das viel Kritik eingebracht.
Obwohl ursprünglich nicht beabsichtigt, haben jetzt Journalisten aus aller Welt Zugriff auf die innere Kommunikation der Supermacht. "Das Material ist aktuell geblieben", betont Marcel Rosenbach. "Es ist so etwas wie ein öffentliches Archiv geworden und spielt bis in diese Tage in der Berichterstattung eine Rolle. Wir finden immer wieder Referenzen auf Wikileaks und auf diese Depeschen in der laufenden Berichterstattung."
In diesem Archiv lässt sich etwa nachlesen, wie sich 2009 ein amerikanischer Beobachter in Brüssel wundert, "wie leicht EU-Institutionen zu durchdringen sind und wie formbar sie sein können, wenn man sich ihnen mit einem angemessenen Verständnis des Koalitionsbildungsprozesses innerhalb der EU nähert". Oder wie ein stellvertretender Außenminister 2010 Japans Vizeaußenminister bittet, künftig bei Diskussionen über die regionale Architektur den Begriff "Asien den Asiaten" zu vermeiden. Oder wie Saudi-Arabien als wichtigste Quelle weltweit für die Finanzierung sunnitisch-islamistischen Terrors identifiziert wird. Oder wie über Regimewechsel in Kuba und Venezuela nachgedacht wurde.
Funke für Arabellion?
In großer Detailschärfe wurden Machtmissbrauch und Korruption in der arabischen Welt sichtbar, etwa in Tunesien. Und auch, wie oft die wahren Ziele der Regierungen den öffentlich verkündeten entgegengesetzt waren. Die Veröffentlichung der Botschaftsdepeschen fiel mit den ersten Funken der Proteste in der arabischen Welt zusammen. Für Marcel Rosenbach waren die Botschaftsdepeschen "zumindest ein Faktor in dem, was wir dann unter dem Schlagwort Arabischer Frühling erlebt haben in den Monaten darauf."
Folgen hatten die Wikileaks-Enthüllungen aber auch für den Journalismus, betont Rosenbach. Weil sich damals diese Form internationaler Medienkooperation etabliert hat. "Das war ein Beispiel für einen neuen Umgang mit einem Material, das potenziell auf globales Interesse stößt, Geopolitik zum Inhalt hat. Und das hat sich als journalistischer Standard im Umgang mit solchen Massen-Leaks verstetigt."
Verändert hat sich durch Wikileaks auch das Verständnis von Information insgesamt, analysiert Sam Forsythe. Der Experte für Informationskrieg arbeitet bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, HSFK. Mit Wikileaks habe ein hybrider, nichtstaatlicher Akteur die Bühne betreten, der internationale Beziehungen stören kann und sogar auf der strategischen Ebene agiert - allein mit Methoden des Journalismus. Eine Folge: Die Verschärfung von Konflikten in der Informationssphäre. "Heute hat jeder verstanden, dass man die Kommunikation kontrollieren muss. Man muss aktiv Ströme von Kommunikation produzieren, die es einem erlauben, das Narrativ zu kontrollieren."
Whistleblower Chelsea Manning
Wikileaks hatte das brisante Material für seine Enthüllungen 2010 von Chelsea Manning erhalten. Damals, vor ihrem Coming-out als Transperson, hieß sie noch Bradley Manning, tat Dienst beim US-Militär im Irak - und hatte Zugang zu den Datenbanken der US-Regierung. "Was würdest du tun, wenn du beispiellosen Zugang zu geheimen Netzwerken hättest (…) und dort unglaubliche Dinge sehen würdest, die in die Öffentlichkeit gehören und nicht in einen dunklen Serverraum in Washington?", fragte Manning im Mai 2010 den US-Hacker Adrian Lamo in einem Chat. Und erwähnte dabei auch eine Viertelmillion "Depeschen des Außenministeriums von Botschaften und Konsulaten in aller Welt, die erklären, wie die erste Welt die dritte Welt ausbeutet, im Detail, aus einer internen Perspektive.(…) Überall, wo es einen US-Posten gibt... gibt es einen diplomatischen Skandal, der aufgedeckt werden wird." Manning meinte, es sei wichtig, dass diese Informationen herauskommen, sie "könnten etwas ändern ".
Mit seiner Einschätzung Lamos als vertrauenswürdig lag Manning falsch: Lamo verrät den Whistleblower. Der wird kurz darauf verhaftet, von einem Militärgericht zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, jedoch nach sieben Jahren Haft begnadigt.
Besser lag die heute 33-Jährige damals mit ihrer Einschätzung der Reaktion in Washington: Außenministerin Hillary Clinton "und mehrere tausend Diplomaten auf der ganzen Welt werden einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie eines Morgens aufwachen und feststellen, dass ein kompletter Bestand an vertraulicher Außenpolitik in durchsuchbarem Format der Öffentlichkeit zur Verfügung steht".
USA gegen Julian Assange
In ihrer ersten Reaktion sprach Clinton am 29. November in Washington von einem "Angriff auf die internationale Gemeinschaft, die Allianzen und Partnerschaften, die Gespräche und Verhandlungen die die globale Sicherheit schützen und den wirtschaftlichen Wohlstand mehren". Wie sehr Washington schäumte, ließ sich an anderen Reaktionen ablesen: Gegner forderten die Ermordung von Julian Assange; Wikileaks wurde von Amazon-Servern genommen; Paypal leitete keine Spenden mehr an Wikileaks weiter, genauso wie die Kredikartenunternehmen Mastercard und Visa; die Webseite von Wikileaks wurde angegriffen; US-Politiker beschimpften die Enthüllungsplattform als Terrororganisation.Immer wieder erklärten US-Politiker, Wikileaks habe "Blut an den Händen", durch die Veröffentlichungen sei das Leben von Informanten oder Oppositionelle von autoritären Regimen gefährdet. "Diese Behauptungen haben sich nicht bewahrheitet", stellt Spiegel Redakteur Rosenbach klar. "Das hat auch das Pentagon selbst Monate nach der Veröffentlichung immer wieder bestätigt."
Vor allem Julian Assange persönlich geriet unter massiven Druck, wurde zum Staatsfeind erklärt. Nachdem der Publizist sieben Jahre im Asyl der ecuadorianischen Botschaft in London verbracht hatte, wird er zurzeit wegen eines Auslieferungsersuchens der USA in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis festgehalten. Sollte er tatsächlich ausgeliefert werden, drohen Assange 175 Jahre Haft. Die britische Richterin Vanessa Baraitser wird ihr Urteil am 4. Januar bekanntgeben.