Kindheit in Afghanistan
25. November 2011Es ist das Jahr 2001, als der britische Regisseur Phil Grabsky in seinem Wohnzimmer sitzt und im Fernsehen die ersten US-Bomben in Afghanistan einschlagen sieht. Wird die westliche Intervention die Taliban-Herrschaft beenden und dem Land Frieden bringen können? Grabsky will sich persönlich davon überzeugen, welche Wandlungen vonstatten gehen und beschließt, eine Dokumentation darüber zu drehen. Kurzerhand packt er seine Kameraausrüstung ein und macht sich auf den Weg in die Hauptstadt Kabul.
Schicksalhafte Begegnung
Auf seinem Weg trifft er auf Zerstörung und Armut. Grabsky beeindruckt die Sehnsucht nach Veränderung in den Gesichtern der Menschen. Er reist in die zentralafghanische Provinz Bamiyan und filmt die von den Taliban zerstörten Buddhastatuen. Hier trifft er auf den kleinen Jungen Mir und damit auf den Protagonisten seiner Geschichte, erzählt er. "Eigentlich hat Mir mich in den ersten zwei, drei Tagen gefunden. Er war voller Energie. Ich habe plötzlich begriffen, dass ein Kind eine Tür öffnen kann. Wenn ich mich auf ein Kind konzentriere, dann konzentriere ich mich auf die Zukunft Afghanistans."
Grabsky besucht Mir immer wieder. Zehn Jahre lang, von Mirs achten bis zum achtzehnten Lebensjahr, dokumentiert der Regisseur den Kampf der Familie ums Überleben. Sein Film "Der Junge Mir" lässt die Politik weitgehend außen vor – und ist trotzdem hochpolitisch.
Nach dem Sturz der Taliban in 2001 herrscht Euphorie in Afghanistan. Mir hat sich vorgenommen, Präsident, oder zumindest Lehrer zu werden. Die Höhlen, in der er mit seiner Familie am Fuße der zerstörten Buddhastatuen lebt, sind für ihn abenteuerlich. Der Achtjährige empfindet sein Leben in dem konfliktgebeutelten Land als großes Spiel voller Möglichkeiten. Erst wünscht er sich ein Fahrrad, dann ein Motorrad. Darin unterscheidet er sich nicht von Heranwachsenden in anderen Ländern der Welt.
Aus Euphorie wird Resignation
Doch je älter Mir wird, desto stärker muss er sich mit den Problemen in dem vom Krieg zerstörten Land auseinandersetzen. Seine Familie ist arm. Bereits mit 11 Jahren muss er auf dem Feld und später auch im Kohlebergbau arbeiten. Er hat kaum Zeit für die Schule. "Was will man machen? Wenn man nicht arbeitet, gibt es kein Essen. Nur wenn du was zu essen hast, kannst du in die Schule gehen", sagt Mir im Film. Seine kindlichen Träume hat er längst aufgeben.
Seit 2005 hören die Menschen jeden Tag in den Nachrichten mehr Berichte über Anschläge der Taliban. Der inzwischen Jugendliche Mir weiß nicht, wie seine Zukunft aussehen soll. Die harte Arbeit und die Armut machen ihm zu schaffen. Von den ausländischen Sicherheitskräften ist er enttäuscht. 700 Milliarden US-Dollar hat der Afghanistan-Einsatz bislang gekostet. Doch bei ihm und seiner Familie kommt davon kaum etwas an. Erst im Jahr 2010 sieht Mir in Bamiyan zum ersten Mal ausländische Soldaten. "Sie sagen, sie sind hier für unsere Sicherheit", so Mir. "Aber wir haben nicht von ihnen profitiert. Sie kommen um ein paar Hefte und Stifte zu verteilen und gehen dann wieder."
Freundschaft fürs Leben
Die Sicherheitslage hat sich in den letzten fünf Jahren durch ein Wiedererstarken der Taliban stark verschlechtert. Dies bekommt auch Phil Grabsky zu spüren, als er nach Afghanistan reisen möchte, um Mir und seiner Familie den fertigen Film zu zeigen. "Zum ersten Mal in zehn Jahren hat man mir gesagt, dass es zu unsicher ist", sagt Grabsky traurig. "Die Situation ist so gefährlich, dass die Sicherheitsberater mir wärmstens empfohlen haben, nicht dorthin zu reisen."
In den letzten zehn Jahren sind der Junge und der Filmemacher Freunde geworden. Grabsky hat für den jungen Afghanen ein Bankkonto angelegt, um ihm eine Ausbildung in Afghanistan zu ermöglichen. "Ich denke, für ihn ist die fruchtbarste Zukunft immer noch in seiner Heimat. Aber ich bin natürlich traurig, wenn ich ihn verlasse, und er empfindet ebenso. Unsere Bindung ist eine Langzeit-Verpflichtung."
Wenn er heute den Fernseher einschaltet, sieht Grabsky wieder die Bomben der Taliban einschlagen. Eine friedliche Ära, wie sie sich die Menschen in Afghanistan bereits vor zehn Jahren ersehnt hatten, ist auch heute nicht in Sicht.
Autorin: Waslat Hasrat-Nazimi
Redaktion: Ana Lehmann