Zauberhafte Potter-Kostprobe
4. November 2003Sie stehen vor Bahnhöfen und in den Innenstädten. Ihre Zeitungen haben Namen wie: "Abseits", "Die Straße" oder "draußen!". In Deutschland versuchen Obdachlose durch den Verkauf von Obdachlosenzeitungen ein bisschen Geld zu verdienen. In der Regel können sie etwas mehr als die Hälfte des Verkaufserlöses behalten. Nur: Relativ wenig Menschen haben Interesse an Obdachlosenthemen. Mussten sich die Obdachlosen bisher lange die Füße in den Bauch stehen, um Käufer zu finden, werden einigen von ihnen seit kurzem die Zeitungen geradezu aus den Händen gerissen. Der Grund: Harry Potter.
Ein Kapitel für die Schwachen
Die geistige Mutter von Harry Potter, Joanne K. Rowling, hatte den Obdachlosenzeitungen erlaubt, das erste Kapitel des neuen Harry-Potter-Buches kostenlos abzudrucken - zwei Wochen bevor es am 8. November 2003 auf den Ladentischen ausliegen wird. Das Ziel: Der Vorabdruck soll zu größeren Auflagen der Obdachlosenzeitungen führen und mehr Aufmerksamkeit für die Schwachen der Gesellschaft wecken. Der kleine Zauberer Harry hat nun auch in der Realität seine Prüfungen bestanden und bescherte den Obdachlosen einen wahren Geldsegen.
Der Verkauf brummt
Seit Samstag (25. Oktober 2003) geben zwölf Obdachlosenzeitungen in Deutschland und der Schweiz ihren Lesern einen ersten Vorgeschmack auf das neue Potter-Buch. "Der Verkauf lief und läuft super", sagte der Sprecher des Bundesverbandes Soziale Straßenzeitungen, Thomas Schröder, nach Beginn der Aktion. Manche Verkäufer hätten mehr als das Doppelte des sonst üblichen Tagesverkaufs abgesetzt.
"Wir haben noch nie einen so begeisterten Absatzmarkt gefunden", so Schröder weiter. Die Zeitungen bewegten sich normalerweise bei einer verkauften monatlichen Auflage von etwas über 200.000 Exemplaren in Deutschland. Da die Blätter, die sich an der Potter-Aktion beteiligen, ihre Auflage um etwa ein Drittel gesteigert hätten, hoffe man, "in diesem Monat die 300.000-Grenze zu kratzen".
Nicht nur die klingelnde Kasse freut die Organisatoren, die Obdachlosen hoffen mit dieser Sonderaktion zudem, Menschen zu ereichen, die sich bisher gar nicht für Obdachlosenthemen interessiert haben. Außerdem soll die Potter-Aktion das Image der Obdachlosen verbessern. Bis zum offiziellen Verkaufsstart für das Buch wollen weitere zwölf Straßenzeitungen in Deutschland und Österreich Auszüge vorab kostenlos drucken.
Von einer Sozialhilfeempfängerin zur Millionärin
Mit der Aktion zeigt Rowling, dass sie sich an ihr eigenes Schicksal noch gut erinnert. Geschieden, ohne Job, mit einer Tochter lebte sie von der Sozialhilfe als sie den ersten Harry-Potter-Roman schrieb. Nach Angaben der britischen Zeitung "Sunday Times" hat Rowling inzwischen mit 405 Millionen Euro ein größeres Vermögen als die englische Königin. Damit ist die 37-Jährige zugleich die reichste Schriftstellerin der Welt.
Den Obdachlosen einen kostenlosen Vorabdruck zu erlauben, war eine gelungene Idee Gutes zu tun. Zudem muss Rowling sicherlich keine Verkaufseinbußen fürchten – ganz im Gegenteil: Es dürfte wohl kaum eine bessere Werbung für die neuen Harry-Potter-Abenteuer geben. In den deutschen Buchhandel kommt der fünfte Potter-Band mit einer Rekord-Erstauflage von zwei Millionen Exemplaren. (iw)