Natur hilft im Kampf gegen Superbugs
29. November 2016Wissenschaftler nennen es eine "fundamentale Bedrohung" für die menschliche Gesundheit, vergleichen es mit Terrorismus und dem Klimawandel. Die wachsende Resistenz gegen Antibiotika hält Mediziner seit Jahrzehnten in Atem. Inzwischen ist eine wachsende Zahl von Bakterien gegen alle bekannten Medikamente immun geworden. Die Angst wächst, dass wir auf dem Weg in eine post-antibiotische Ära sind.
Gesundheitsexperten schätzen, dass arzneimittelresistente Erregerstämme von Bakterien wie multiresistentem Staphylococcus aureus (MRSA), Tuberkulose und E. coli weltweit jährlich 700.000 Menschen das Leben kosten. Einem von der britischen Regierung 2013 veröffentlichten Bericht zufolge könnte diese Zahl bis 2050 auf 10 Millionen ansteigen, wenn nichts dagegen unternommen wird. Das würde in der Weltwirtschaft Schäden von bis zu 100 Billionen Dollar verursachen. Die sogenannten "Superbugs" könnten Menschen töten, die an sich gesund sind und einfach nur für eine Routinebehandlung oder für eine Entbindung ein Krankenhaus aufsuchen.
Schuld daran sind unter anderem die übertriebene Verschreibung von Antibiotika und deren Verwendung in der Tierhaltung. Und die Pharmaindustrie hat in den vergangenen Jahren wenig neue Antibiotika entwickelt. Auf der Suche nach neuen Behandlungsmöglichkeiten blicken manche Forscher auch auf andere Wissenschaftsdisziplinen wie die Ethnobotanik, die die Erforschung indigener Kulturen mit der Erforschung von Pflanzen kombiniert, um in der traditionellen Medizin Antworten zu finden.
Traditionelles Wissen + Wissenschaft = Ethnobotanik
Cassandra Quave ist eine dieser Wissenschaftler, die in der Natur nach Antworten sucht. Für sie ist es eine persönliche Mission. Im Alter von drei Jahren bekam sie eine lebensbedrohliche Staphylokokkeninfektion, nachdem sie ihr Bein verloren hatte. Dieser Verlust bremste aber nicht ihre Begeisterung für die Wildnis Zentralfloridas, wo sie aufwuchs. Ihr Interesse an der Natur und der Heilung blieben und führten sie an die Uni.
Inzwischen ist sie ausgebildete Ethnobotanikerin an der Emory University in Georgia und im Herzen ein Pflanzendetektiv. Sie dokumentiert akribisch Volksheilmittel, sammelt Proben und verbindet ihr Interesse an traditionellem Wissen mit wissenschaftlicher Forschung, um die Geheimnisse der Pflanzen zu enthüllen. Während ihrer wissenschaftlichen Laufbahn hat sie Hunderte von Pflanzenarten gesammelt, die zur Entdeckung von neuen Wirkstoffen führen könnten. "Das Thema meiner Doktorarbeit war die Dokumentation der traditionellen Verwendung von Wildpflanzen zur Behandlung von Hautkrankheiten", sagt sie.
Einen Großteil ihrer Feldforschung betreibt Quave in abgelegenen Ecken Südeuropas, wo sie die Erzählungen von Volksheilern aufzeichnet, die in Italien, Sizilien und Albanien leben. "Ich gehe gerne in abgelegenere Gegenden, weil die Menschen sich dort für ihr eigenes Überleben auf die Natur einlassen", sagt sie. Es war traditionelles Wissen über Heilpflanzen im ländlichen Italien, das Quave zur Edelkastanie, Castanea sativa, und deren Potential für die Bekämpfung von MRSA führte.
Der Baum des Lebens
Quaves ursprüngliche Forschung über den Baum wurde 2015 in der Fachzeitschrift PLOS One veröffentlicht. Sie hatte entdeckt, dass ein Extrakt aus den Blättern möglicherweise zu einem Wirkstoff führen könnte, der die Ausbreitung von MRSA blockieren könnte, einer Krankheit, die zu einer Vielzahl medizinischer Komplikationen führen kann, die von leichtem Hautausschlag bis zum Tod reichen. Statt die Staphylokokken abzutöten, stoppt der Extrakt die Fähigkeit der Bakterien Giftstoffe zu produzieren, die Gewebeschäden verursachen.
"Es ist so, als ob man bei einem Hundebiss die Zähne entfernen würde. Die Idee ist, die Toxizität der Infektion zu reduzieren oder zu entfernen", sagte Quave gegenüber DW. Jetzt testet ihr Team die Effizienz des Wirkstoffs. Die Ergebnisse werden veröffentlicht, sobald sie durch Experten geprüft worden sind.
Castanea sativa ist ein breitblättriger Kastanienbaum mit einer europäischen Geschichte, die 2000 Jahre zurückreicht, bis ins Römische Reich. Einst schätzten Bauern und Baumpfleger in den USA und Europa den Baum aufgrund des Schattens, den er spendet und seiner nahrhaften Nüsse, die heute als saisonale Delikatesse gegessen werden. Die Landbevölkerung hat die Blätter seit langem zur Herstellung einer Spülung zur Behandlung von Hautleiden verwendet, sagt Quave.
Zauberer der Natur
Während viele Volksheilmittel keinerlei wissenschaftliche Grundlage haben, hat die Ethnobotanik einige Vorteile, wenn es darum geht, Pflanzen mit Heilkräften zu identifizieren. Zunächst einmal bietet sie ein schnelles Bestimmungsbuch für Pflanzen, die zur Behandlung von Leiden und Krankheiten nützlich sind. Schließlich haben Menschen schon immer aus verschiedenen medizinischen oder spirituellen Gründen gewisse Pflanzen verwendet. Traditionelle Heiler haben durch Ausprobieren die Verwendung dieser Pflanzen immer mehr verfeinert. "Ich denke, es gibt in dem, was ansonsten als Folklore gilt, viel zu entdecken und zu verstehen", sagt Quave.
Zweitens basiert Ethnobotanik auf Millionen Jahren der Evolution. Pflanzen sind die Zauberer der Natur. Da sie Jäger und Räuber nicht bekämpfen, vor ihnen fliehen können oder auf der Suche nach Partnern herumstreifen können, produzieren sie eine Menge chemischer Verbindungen, um Schädlinge abzuwehren und Bestäuber anzuziehen. Wenn Menschen diese Pflanzen aufnehmen, kann der Körper auf verschiedene Arten reagieren. Die chemischen Cocktails, die sie enthalten, können harmlos, giftig, halluzinogen oder sogar heilend wirken.
"Das gesamte Konzept der Erforschung von natürlichen Produkten liegt darin, die Verteidigungsmoleküle für uns zu nutzen, die Pflanzen, Pilze und Bakterien produzieren, um sich selbst zu schützen", sagt Nadja Cech, Chemieprofessorin an der Universität von North Carolina in den USA.
Trotz der Fortschritte in der modernen Medizin und Forschung, die zum Aufstieg von synthetischen Medikamenten geführt haben, bleibt die Verwendung von Pflanzen für medizinische Zwecke in der ganzen Welt weitverbreitet. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge greifen 80 Prozent der Bevölkerung Afrikas bei Gesundheitsproblemen auf traditionelle Medizin zurück. In China sind 30 bis 50 Prozent der verwendeten Medikamente traditionelle Kräutermedikamente.
Und wenn Quaves Erkenntnisse über Kastanienblätter den Sprung vom ländlichen Italien ins Krankenhaus schaffen würde, wäre das nicht das erste Mal. Etwa 74 Prozent der Medikamente, die auf Pflanzenwirkstoffen basieren, kommen daher, dass jemand ethnobotanischen Spuren gefolgt ist. Chinin, Aspirin und das Krebsmedikament Taxol sind nur ein paar Beispiele für weitverbreitete Wirkstoffe, die aus Pflanzen gewonnen wurden.
"Dieses Gebiet ist gerade sehr spannend, weil vielen Leuten das große Potential von Naturprodukten bei der Entdeckung von Wirkstoffen bewusst wird", sagt Cech. "Wir haben das noch nicht im vollen Umfang genutzt."