"Xis Politik passt nicht zur Globalisierung"
30. Juni 2023Wo steht China wirtschaftlich? Wie sieht der künftige Kurs der Volksrepublik aus und welche Auswirkungen hat das für deutsche und europäische Unternehmen in ihrem China Geschäft?
Dafür gibt es kaum einen besseren Gesprächspartner als Jörg Wuttke, der China seit 30 Jahren kennt. Er hat die Deutsche und die Europäische Handelskammer in China gegründet und beide Organisationen geleitet und geprägt.
Vor kurzem hat er den Staffelstab an seinen Nachfolger übergeben. Für uns die perfekte Gelegenheit, mit Jörg Wuttke zu sprechen.
DW: Herr Wuttke, wenn Sie 30 Jahre China - die meisten in führenden Positionen - Revue passieren lassen, ist das eine unglaubliche Geschichte. Ist die mittlerweile auserzählt oder wie geht es weiter?
Jörg Wuttke: Ja, ich war das erste mal 1982 in China und hatte das Privileg, die größte wirtschaftliche Comeback-Story der Welt mitzuerleben. China stand vor 200 Jahren für 30 Prozent des globalen Bruttosozialproduktes, jetzt sind wir wieder bei fast 20 angekommen. Und meine persönliche Erfahrung ist: Ich habe tatsächlich die Entwicklung von blauen und grünen Jacken damals zu einem High Tech-China heute erlebt und die Frage ist: Kann man das weiter hochrechnen? Ich glaube nicht, aber es war trotzdem eine unglaubliche Entwicklungsgeschichte.
Sie haben diesen unglaublichen Wechsel aus nächster Nähe miterlebt, auch als Akteur der europäischen Wirtschaftspartner Chinas. Was hat sich mittlerweile geändert, wenn sie die Aufbruchszeit in den Neunzigern und Nullerjahren mit der heutigen Zeit unter Xi Jinping vergleichen?
Die Phase des WTO-Beitritts Chinas im Jahr 2001 und der Öffnung des Marktes ist mit der Person des damaligen Premierministers Zhu Rongji verknüpft. Wenn man diese Zeit mit heute, 23 Jahre danach, vergleicht, ist im Grunde zu erkennen, dass sich China vom Rest der Welt eher abgekoppelt hat, während es 2001 versucht hat, in die Globalisierung hineinzuwachsen.
China ist heute sehr viel reicher, sehr viel mächtiger, in einigen Bereichen wie im Automobilsegment Technologieführer. Gleichzeitig haben wir eine Politik, die sehr viel mehr das Schließen als die Öffnung betont. Da ist die von Präsident Xi Jinping vorgegebene Abkehr von der Welt. China soll zwar unabhängiger werden von der Welt, aber will, dass die Welt abhängiger von China wird. Das passt natürlich nicht mit der Globalisierung zusammen.
Welche Rolle ist dann für die Europäer und die westlichen Partner in der Handels- und Industriepolitik vorgesehen?
Na, sicherlich wird man die Großen, die Technologie und Jobs bringen, weiter pflegen. Das ist im Automobilsegment so, bei der Chemie, im Maschinenbau. Aber wir müssen auch ganz klar sehen, dass wir hier eigentlich unter den Möglichkeiten bleiben.
Wir haben mit den Unternehmen aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten im vergangenen Jahr gerade einmal 23 Prozent mehr nach China verkauft als in die Schweiz. Es sind sage und schreibe 6,4 Millionen Container von China nach Europa gegangen, aber nur 1,6 Millionen Container wieder von Europa nach China.
Das heißt: China ist in vieler Hinsicht sehr viel abhängiger von unserem Markt als wir das sind. Das ist betrüblich, weil der Markt groß genug ist. Aber die zahlreichen Zugangsbeschränkungen machen uns das Leben schwer.
Sie haben einmal geschrieben, dass sie versuchen herauszufinden, wie China und die Chinesen ticken. Glauben Sie, dass sie schon relativ nah dran sind?
Ich habe den Eindruck, dass ich vor 20 Jahren näher daran war, das Rätsel China einigermaßen zu entziffern. Momentan macht es diese Ideologisierung in China, aber auch gleichzeitig dieser Gegenwind, den man aus westlichen Ländern bekommt, wahnsinnig schwer vorurteilslose Urteile zu fällen.
Mir scheint, dass wir uns auseinander bewegen. Das hat sicherlich auch mit dem großen Bild zu tun, mit Amerika und China, bei denen jegliches Vertrauen fehlt. Wir haben hier eine Politik von Präsident XI Jinping, die sehr viel autoritärer ist und den Kommunismus nicht nur stärkt, sondern als Grundmaßnahme wieder eingeführt hat. Das ist nicht mehr das China von Deng Xiaoping, das sehr viel wirtschafts-lastiger war, das sehr viel mehr auf Offenheit gesetzt hat.
China hat de facto in mancherlei Hinsicht dem Westen den Rücken zugekehrt und beschäftigt sich eher mit sich selbst.
Wenn Sie die chinesischen Entscheidungsträger als Wegbegleiter ihrer unternehmerischen Tätigkeit in China mit denen von heute vergleichen - was hat sich da geändert? Ist das Misstrauen dem Westen gegenüber größer geworden? Oder ist es das größere Selbstbewusstsein, resultierend aus der wirtschaftlichen und politischen Stärke und dem größeren Gewicht Chinas?
Die Gründergeneration - vor allem um die Person von Premierminister Zhu Rongji und Präsident Jiang Zemin herum - war natürlich ganz anders aufgestellt. Präsident Jiang hat zum Beispiel im Ausland gelebt, was einen großen Unterschied macht. Er sprach Fremdsprachen - im Gegensatz zum heutigen Präsidenten.
Heute ist die Führung in China de facto auf einen Mann zugeschnitten, das war früher nicht so. Das war ein Team, das war ein Politbüro, das zusammen Politik umgesetzt hat. Deswegen ist es wahnsinnig schwer, in den Kopf von Xi hineinzublicken und zu sehen, wie er sich künftig gegenüber Europa aufstellen will.
Es gibt immer noch Topleute in einigen Positionen, Lokalpolitiker wie etwa den Parteichef in Chongqing, der extrem entgegenkommend ist. Aber gleichzeitig ist hier in Peking eine Echokammer festzustellen, die das Wahrnehmen europäischer Interessen für chinesische Spitzenpolitiker sehr schwer macht.
Es gibt immer noch Technologien, bei denen China hinterherhinkt, High End-Chips zum Beispiel. Es gibt massive Einschränkungen von Seiten der USA, die diese Technologie der Volksrepublik mehr oder weniger vorenthalten wollen. Wie lange, glauben Sie, wird eine enge Zusammenarbeit mit China überhaupt noch möglich sein? Solange man uns noch braucht oder ist es in beiderseitigem Interesse, dass das auch in den nächsten Jahrzehnten weitergeht?
Nun gut, da kann man wiederum nicht in den Kopf von Präsidenten Xi blicken. Aber ich weiß, dass man sich in seinem Umfeld der Abhängigkeit vom Westen schon sehr bewusst ist. Das ist eine Abhängigkeit, die man von heute auf morgen nicht lösen kann, gerade im Bereich von Halbleitern und Maschinen für die Chipfertigung. Da ist China abhängig von einigen Ländern wie Korea, Japan, Amerika, auch von Taiwan. Von daher ist klar, dass sich China da nicht abkapseln kann.
Gleichzeitig ist aber schon eine starke Nationalisierung in einigen Bereichen festzustellen, wo ganz klar daraufhin gedrängt wird: Wir brauchen die Ausländer nicht mehr, also lassen wir sie auch nicht mehr in den Markt rein.
Wir müssen im Automobilsegment sehen, wie weit China sich weiterhin offen zeigt. Bisher waren sie ja relativ offen - allerdings mit einigen Zwangsjacken. Aber nichtsdestotrotz hatten wir große Fortschritte zu verzeichnen. Nun sind sie auf ihrem eigenen Weg. Dazu gehören die neuen Elektro-Autos, bei den Batterien sind sie Weltmeister. Da muss man sehen, inwieweit unsere Firmen da noch mithalten können.
Trotzdem glaube ich, dass gerade in einer Wirtschaft, die sehr geprägt ist von Überalterung, China gleichzeitig auch mit anderem Gegenwind zu kämpfen hat: Es gibt Probleme im Immobiliensektor, hoch verschuldete lokale Verwaltungen und kleinere Banken kriseln. Dann könnte China vielleicht doch versuchen, wieder zu seiner früheren Offenheit zurückzukommen. Dann könnte wieder Wirtschaft vor Ideologie gelten.
Wenn wir uns jetzt die 30 Jahre, die Sie in China mit kurzen Unterbrechungen verbracht haben, anschauen: Sie haben eine große Liebe, eine große Zuneigung zu China, zur Kultur, zum Land, zu den Menschen, zur Mentalität der Leute entwickelt. Gilt das auch als Pluspunkt, wenn sie kritische Anmerkungen in Gesprächen mit Entscheidungsträgern vorbringen?
Ich glaube, dass sich die Entscheidungsträger sicherlich an einigen meiner Äußerungen gestoßen haben. Aber nichtsdestotrotz waren diese Äußerungen meistens sehr faktenbasiert und sie wussten genau, dass an meinen Argumenten wenig zu rütteln ist. Trotzdem reagiert man auf Kritik etwas anders hier. Jede kleine Kritik wird schon als Problem ausgelegt.
Aber ich muss sagen, die chinesischen Regierungsspitze hat mich zehn Jahre lang ertragen und ich konnte immerhin bei einigen Fällen dazu beitragen, dass intern eine Politik -Diskussion angestoßen worden ist. Zum Beispiel im letzten Jahr, als ich mich relativ laut vom Balkon aus gegen diese Covid-Politik geäußert habe.
Ich wurde immer fair behandelt, aber muss auch leider gestehen: Viel haben meine Kritikpunkte am Politikwesen in China nicht geändert.
Auch wenn Sie jetzt den Staffelstab übergeben haben - so haben Sie ja schon verraten - werden Sie sich weiter mit China beschäftigen. In welcher Form?
Gut, ich gehe jetzt in Pension, mit 65 kann man aber noch mal neu anfangen. Ich werde sicherlich nach Amerika ziehen und versuchen dort in einigen Think Tanks etwas zu bewegen. Ich werde garantiert versuchen, mein Wissen über China soweit wie möglich auch an Studenten weiterzugeben. Und mal gucken, wie es uns da gefällt. Ich habe drei Jungs im Alter von 12, 13 und 15. Und ich will die weiterhin im angelsächsischen Erziehungssystem behalten. Deswegen ist für mich Washington die Ideallösung. Dort gibt es ja auch ein geballtes China-Know-how und ich glaube, gerade mit dem Problemfall China-USA gibt es dort sicher ein breites Feld für mich.
Warum nicht Deutschland, sondern die USA? Wie sehen Sie die Zukunft Deutschlands?
Ich habe ein Haus in der Nähe von Sinsheim und bin dort verwurzelt, samt Fußballclub - natürlich Hoffenheim! Aber ich habe einfach nochmal richtig einen Biss, etwas Neues anzufangen und habe noch nie in Amerika gewohnt.
Ich kenne das Land ganz gut. Meine Kids sind hier in China auch auf einer amerikanischen Schule und von daher passt das eigentlich ganz nahtlos. Heimat bleibt aber immer Deutschland. Auch wenn man natürlich aus China schon mal mit nervösen Augen auf Deutschland schaut.
Als Deutscher bin ich natürlich sehr besorgt über die Gefahr einer Deindustrialisierung, die man doch in einigen Bereichen schon erkennen kann. Ich muss sagen, man kann meines Erachtens von den Amerikanern eine Menge lernen. Diese Offenheit, die es dort gibt, diese Entschiedenheit, gerade beim sogenannten IRA, dem Inflation Reduction Act, so viel Geld auf den Tisch zu legen, dass dort in der Tat eine Energierevolution stattfindet.
Auf der anderen Seite sind die Amerikaner ja spätestens seit Donald Trump knallhart im Umgang mit China. Da ist von amerikanischer Seite viel Porzellan zerschlagen worden. Viel Vertrauen ist verloren gegangen und es spielt immer wieder dem chinesischen Narrativ in die Hände. Dem von den "ungleichen Verträgen", der Demütigung Chinas im 19. Jahrhundert durch den Westen. Glauben Sie, da ist Amerika auf dem richtigen Kurs? Oder müsste da der Ball ein bisschen flacher gehalten werden?
Ich glaube, dass die Trump-Politik eine Katastrophe war. Man hat sich im Grunde genommen wie Gary Cooper in High Noon einen Gegner ausgesucht und glaubte triumphieren zu können. Aber am Ende stehen wir alle als Verlierer da.
Ich denke, dass sich die Europäer da sehr viel besser aufgestellt haben mit der Politik, dass China Partner, Konkurrent und Rivale ist. Und ich glaube auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den richtigen Ton getroffen, indem sie von De-Risking gesprochen hat, während man in Amerika sehr schön erkennen kann, gerade auch im Kongress, das alles auf Decoupling hinausläuft.
Ich war im letzten Monat im Weißen Haus und muss sagen, dass es in Amerika immer noch kühle und kluge Köpfe gibt, die versuchen, eine Deeskalation hinzubekommen. Weil sie genau wissen, dass ein Kampf zwischen Amerika und China das Ende für die Globalisierung bedeuten würde.
Das Problem Taiwan, die mögliche Eskalation: Ist das für Sie ein Thema, auch in Gesprächen mit Entscheidungsträgern in Peking, oder wird das ausgeklammert?
Nein, das wird nie ausgeklammert und ich bin da auch relativ direkt und weiß auch immer, dass sich dort offene Ohren finden. Ich bekomme da also keine "Taiwan-Lektionen" vorgelesen.
Ich glaube, dass man da ein bisschen 'piano' [leise, Anm. d. Red.] spielen sollte. Es ist sicherlich so, dass die Volksrepublik mit ihrer Armee auf absehbare Zeit Taiwan nicht einnehmen kann. Da bin ich voll bei Kevin Rudd, dem ehemaligen australischen Premierminister, der fließend Chinesisch beherrscht. Kevin und ich glauben wirklich, dass da keine Gefahr ist, denn ein Angriff auf die taiwanesische Insel würde nichts anderes als das Ende der Globalisierung bedeuten.
Denn 90 Prozent aller Top-Halbleiter kommen im Grunde von dort. Ein Angriff würde bedeuten, dass dort nichts mehr produziert werden kann. Ich glaube, das weiß man auch in Peking.
DW: Nachdem Sie Ihr Amt übergeben haben: Was ist ihr Vermächtnis, was würden sie gerne der Welt auf den Weg mitgeben?
Ich verlasse die Kammer, aber bleibe noch bis August 2024 in China. Ich gönne mir noch ein Jahr lang mit meinem Job, um mich sozusagen auf den Sprung über den Pazifik vorzubereiten.
Was ich mir als Legacy [Vermächtnis, Anm. d. Red.] wünsche, ist, dass anerkannt wird, dass ich mehr Transparenz in die chinesische Wirtschaft gebracht habe, indem ich eine Kammer geleitet und gegründet habe, die wegweisende Papiere veröffentlicht. Dass wir von der chinesischen Regierung akzeptiert worden sind. Und, dass mein Nachfolger mit der Kammer ein Instrument hat, bei dem die Entscheidungsträger in Brüssel oder Berlin weiterhin zuhören.
Das Gespräch führte Thomas Kohlmann