"Wuhan Diary": 60 Tage in einer gesperrten Stadt
10. Juni 2020Die chinesische Autorin Fang Fang wurde nicht erst mit ihren täglichen Einträgen während der Corona-Krise in Wuhan in den sozialen Netzwerken aktiv. Schon vor dem 25. Januar 2020 hatte sie 3,5 Millionen Follower. Sie gehört zu den bekanntesten Schriftstellern Chinas, schrieb Drehbücher, Erzählungen und Romane, war Chefredakteurin einer populären Zeitschrift, Vorsitzende des Schriftstellerverbands der Provinz Hubei. Vor zehn Jahren erhielt sie für ihr Werk den Lu Xun-Preis, Chinas bedeutendste literarische Auszeichnung. Drei ihrer Romane wurden ins Französische übersetzt. Auch zu Deutschland hat sie eine Verbindung, ihr Roman "Ameisen auf Messersschneide" entstand zum großen Teil 2009 bei einem zweimonatigen Aufenthalt in Dresden.
Der Beginn der Abriegelung
Fang Fang (oder Wang Fang, wie sie mit bürgerlichem Namen heißt) wohnt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan, der aus ursprünglich drei Städten bestehenden Stadt am Changjiang (Yangtze), Chinas längstem Fluss. Neun Millionen Menschen leben in der Hauptstadt der zentralchinesischen Provinz Hubei. Ende Januar, vor dem chinesischen Neujahrsfest, sind es vielleicht noch ein paar Zehntausend mehr. Denn wie in Deutschland zu Weihnachten fährt dann, wer immer kann, zur Familie, um tagelang zu essen und zu plaudern, Verwandte zu besuchen, alte Freunde zu treffen. 2020 fiel das Neujahrsfest in Wuhan dem Corona-Virus zum Opfer.
Auch Fang Fangs Tochter kehrt am 22. Januar aus Japan zurück. Schon tags darauf geschieht das Unfassliche: Eine Stadt von neun Millionen Menschen wird abgeriegelt. Wegen der Quarantäne verbringen die Schriftstellerin und ihre Tochter das Neujahrsfest getrennt, Fang Fang allein mit ihrem alten Hund in ihrem Apartment in einer Wohnanlage des Künstler- und Schriftstellerverbandes.
Ein Blog wider die Zensur
"Ich habe keine Ahnung, ob dieser Eintrag die Leser erreichen wird." So beginnt die 65-Jährige am 25. Januar den ersten ihrer Blog-Einträge in der vom Corona-Virus lahmgelegten Stadt. In China ist es nicht ungewöhnlich, dass einzelne Blog-Beiträge gesperrt oder erst gar nicht veröffentlicht werden. Immer mal wieder verschwindet auch der ganze Blog, um erst nach Tagen wieder abrufbar zu sein.
Etwa sechzig Einträge veröffentlicht sie in ihrem Online-Tagebuch, den letzten nach zwei Monaten am 24. März, als die Abriegelung der Provinz Hubei, noch nicht der Stadt Wuhan, aufgehoben wird. In Wuhan wird der Ausnahmezustand erst am 8. April für beendet erklärt. Täglich um Mitternacht schickt sie ihre Gedanken und Beobachtungen ins Netz, und bis die Zensur zugreifen kann, ist ihr Beitrag schon vieltausendfach geteilt worden. Fang Fang selbst erschrickt über die enorme Aufmerksamkeit, die ihr Corona-Blog erfährt, als sich die Zahl ihrer Follower schnell verzehnfacht hat.
Offene Worte, scharfe Kritik
"Alle sollen erfahren, was sich in Wuhan gerade tatsächlich abspielt", ist Fang Fangs Ausgangsmotiv. Die Autorin schreibt berührend über die Panik, die Hilflosigkeit, die Ängste und die Anspannung gerade in den frühen Tagen des Lockdowns. Sie berichtet von der Empörung über die erste Corona-Pressekonferenz der Provinzregierung von Hubei, in der kein Wort darüber fällt, warum mindestens zwanzig Tage verstrichen sind, in denen die Behörden nichts gegen die Ausbreitung des Virus unternommen haben.
Dabei nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund. "Es sind die üblen Folgen der Negativauslese in der Beamtenschaft, des leeren, politisch korrekten Geschwätzes und der Missachtung von Tatsachen, die üblen Folgen des Verbots, die Wahrheit auszusprechen, die Verhinderung der Medien, den wahren Sachverhalt zu berichten, die wir jetzt auszubaden haben." Solch scharfe Kritik an "achtlosen" und "unfähigen" Kadern kann weniger Prominente ins Gefängnis bringen.
Reflexionen und Berichte
Fang Fang hat in Wuhan studiert, sie liebt die Stadt, in der sie seit mehr als sechs Jahrzehnten lebt und in der sie bestens vernetzt ist. Ihr in der räumlichen Isolation verfasstesTagebuch wird so zur Drehscheibe für Informationen und Reflexionen, angereichert mit Berichten von mit ihr befreundeten Ärzten über die Zustände in den Krankenhäusern, mit Nachrichten der lokalen Polizei, mit Informationen von Journalisten und anderen Bloggern. Sogar Diskussionen über Vor- oder Nachteile der chinesischen Medizin gibt die Autorin wieder. Vieles reicht sie ungefiltert weiter, sie erhebt nicht den Anspruch, die Fakten, Neuigkeiten oder Diskussionsbeiträge verifizieren zu können.
Vom Wetter schreibt sie täglich, genauso wie von der Stimmung der Menschen angesichts der - anfänglich katastrophalen - Entwicklung der Epidemie. Sie berichtet, wie nach den ersten Wochen wieder Entspannung eintritt, erzählt vom Aufatmen über das Eingreifen des Staates, der innerhalb kürzester Zeit Behelfskrankenhäuser aus Fertigteilen hochzieht. Fang Fang rühmt die jungen Freiwilligen, die Versorgung, Transport und Sicherheit organisieren - Aufgaben, für die eigentlich die Behörden zuständig wären. Voller Lob und Bewunderung ist sie für das Durchhaltevermögen, die gegenseitige Hilfsbereitschaft und die Geduld der Wuhaner. Ihre Helden sind aber vor allem die Ärzte und das medizinische Personal, die - am Anfang noch ahnungslos - an vorderster Front der Virus-Attacke standen und von denen viele selbst zu Opfern wurden.
Die Frage von Schuld und Verantwortung
Das Verlangen nach Aufklärung durchzieht Fang Fangs Wuhan-Tagebuch wie ein roter Faden: Journalisten müssten "bei ihren eifrigen Rückblicken auf die Epidemie auch ihre Hintergrundanalysen und investigativen Recherchen fortsetzen", schreibt sie. Die Schuldigen für die, zum damaligen Zeitpunkt, mehr als 2000 Toten müssten benannt werden. Wer trägt die Verantwortung für Verzögerung, Verschleppung und Desinformation? Welches menschliche Versagen machte die monatelange Isolation von neun Millionen Menschen und die Abriegelung einer 60 Millionen-Provinz notwendig? Fang Fang will Antworten.
In China der Wahrheit verpflichtete, gut recherchiert und möglichst objektiv berichtende Medien und Freiheit fürs Internet zu fordern, ist wagemutig, erst recht in jüngster Zeit unter Staatspräsident Xi Jinping. Fang Fangs Corona-Blog war ein Beispiel für diese Freiheit, die sich die Autorin, vielleicht im Bewusstsein ihres Renommées, einfach nahm.
Sie verrate China an den Westen
Und er ist gleichzeitig trauriger Beleg dafür, warum China auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 177 von 180 steht. Denn kaum war die Bedrohung durch das Virus im Land eingedämmt, geriet Fang Fang in den offiziellen Medien heftig unter Beschuss. Sie habe mit ihrem Tagebuch Panik geschürt und Gerüchte verbreitet, um eine Untergangsstimmung zu erzeugen. Als Anfang April bekannt wurde, dass innerhalb kurzer Zeit eine deutsche und eine englische Übersetzung erscheinen sollte, wurde sie als Nestbeschmutzerin beschimpft. Der große Vorwurf: Sie habe durch Voreingenommenheit und Unwahrheiten westlichen Medien und Politikern wie US-Präsident Donald Trump den Vorwand geliefert, China für die Ausbreitung des Corona-Virus verantwortlich zu machen.
Die Hassattacken auf Fang Fang im Internet, die es auch schon während ihrer Blog-Veröffentlichung gegeben hatte, wuchsen sich seither zu einem regelrechten Shitstorm aus. Plötzlich tauchten auch noch andere Vorwürfe auf, etwa der, sie habe sich unrechtmäßig bereichert. Die Autorin will gegen solche Verunglimpfungen juristisch vorgehen. Auf ihrem eigenen Miniblog-Account beschäftigt sich Fang Fang inzwischen kaum noch mit der Corona-Pandemie. Lieber spricht sie über Filme, Volkstänze oder Bücher.
Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt. Aus dem Chinesischen übersetzt von Michael Kahn-Ackermann, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020, 352 Seiten. Eine chinesische Buchausgabe gibt es nicht oder nur als illegal edierte Zusammenstellung ihrer Blog-Beiträge. Auf Englisch erschien der Text Mitte Mai als Ebook. Die englische Printausgabe kommt im August in den Handel.