Wolfsburg tanzt, Madrid wankt
7. April 2016"Suche Karten!" Kleines Schild, hoffnungsvolle Blicke - sie begegnen einem immer wieder rund um Bundesliga-Stadien. Aber in Wolfsburg? Hier sind Kartensucher eher die Ausnahme, und ausverkauft gilt als Fremdwort. Doch an diesem Champions-League-Abend war alles anders. Die, die drinnen saßen, riss es immer wieder von den Sitzen. Sie wogten hin und her, jubelten, tanzten. 26.400 Zuschauer in der Wolfsburger Arena trauten ihren Augen kaum: 2:0. Zur Halbzeit schon. Im Viertelfinal-Hinspiel gegen Real Madrid.
Die, die so kurz vor dem Anpfiff noch auf der Suche nach Tickets waren, schienen geahnt zu haben, dass die Wolfsburger sich tatsächlich an die Abendplanung halten und das größte Spiel der Vereinsgeschichte abliefern. Durch die Tore von Ricardo Rodriguez per Foulelfmeter in der 18. Minute und Maximilian Arnold nach einem Konter sieben Minuten später haben die Wölfe plötzlich die reale Chance, ins Halbfinale einzuziehen. "Diesen Abend kann uns keiner mehr nehmen", sagte dann auch ein stolzer Manager Klaus Allofs. "Wir haben mutig nach vorne gespielt. Es war schnell zu sehen, dass wir mitspielen können."
Spiel der Gegensätze
Dabei hätten das nur die Wenigsten für möglich gehalten, in diesem Spiel der Gegensätze: Auf der einen Seite der zehnmalige Titelträger, das weiße Ballett aus Madrid. Auf der anderen Wolfsburg, vom Volkswagen-Konzern alimentiert, aber in Europa noch immer keine große Nummer. Hier die stolz geschwellte Brust der Königlichen nach dem 2:1-Sieg im Clasico gegen Barcelona, dort eine Wolfsburger Mannschaft, die in der Bundesliga im grauen Mittelmaß feststeckt. Bei Real Weltstars und Glamour: Gareth Bale, Karim Benzema, Cristiano Ronaldo. In Wolfsburg ein Kader, der nicht mal die Extravaganz eines Nicklas "Lord" Bendtner verträgt.
Auf dem Weg zum Stadion wollten auch die VfL-Anhänger der Einschätzung des deutschsprachigen Real-Fans José nicht widersprechen: "Wenn Benzema, Bale und Ronaldo mit einem Bein auflaufen, dann hat Wolfsburg vielleicht eine Chance." Schelmisches Grinsen. Genau diese Rollenverteilung spielte den Wolfsburgern in die Karten und ließ sie, anders als zuletzt in der Bundesliga, befreit aufspielen. Die Wölfe fühlten sich pudelwohl als Underdog. "Vielleicht haben sie uns unterschätzt", sagte Julian Draxler. "Aber jetzt wissen sie, dass wir auch ein gefährliches Team sind."
Draxler herausragend, Ronaldo entnervt
Gerade Draxler stellte dies immer wieder unter Beweis. Es war das erste Mal, dass der Mann mit der Nummer zehn für Wolfsburg auf der großen Bühne strahlte, dass er zumindest ein bisschen seinen Vorgänger Kevin de Bruyne vergessen machte. Draxler lenkte immer wieder die Wolfsburger Konter in gefährliche Zonen, spielte Reals Rechtsverteidiger Danilo Knoten in die Beine und war sich auch für eine gepflegte Grätsche gegen Ronaldo zwanzig Meter vor dem eigenen Tor nicht zu schade.
Dass Ronaldo, der den Königlichen sonst die Krone aufsetzt, im Gegensatz zu Draxler einen seiner schlechteren Tage erwischt hatte, erkannte man spätestens in der zweiten Halbzeit, als er nur noch bockte und jammerte. Seine Fehlschüsse feierten die Wolfsburg-Fans mit hämischem Beifall. In der Schlussphase erhoben sich alle von ihren Plätzen, um gemeinsam zu singen. "Oh, wie ist das schön!", hallte es durchs Stadion. Und um die nächste Strophe beim Wort zu nehmen: Es ist tatsächlich lange her, dass sie in Wolfsburg so einen Fußball zu sehen bekamen.
Euphoriebremse
Von Euphorie oder Party-Stimmung wollten die VfL-Spieler allerdings nichts wissen. "Wir haben sie ein bisschen geärgert, mehr nicht. Im Rückspiel wird uns ein heftiger Sturm erwarten", sagte Draxler. "Wir haben erst 50 Prozent erreicht", ergänzte Torschütze Arnold. "In Madrid müssen wir nochmal so eine Leistung bringen, wenn nicht sogar noch besser spielen."
Dieser überraschende Erfolg tut den Wolfsburgern aber auch jetzt schon gut, nach all den Negativschlagzeilen in den vergangenen Wochen; dem Abgas-Skandal bei VW, den dürftigen Bundesliga-Ergebnissen, den Possen um Nicklas Bendtner und Max Kruse. Der kleine VfL, oft belächelt, oder gar als Plastik-Klub verspottet, hat gezeigt, dass er an einem guten Abend eine mitreißende Wucht entwickeln kann. Die Ticketsucher haben's vorher gewusst, jetzt wissen es auch die Weltstars aus Madrid.