Wolffsohn für Verjährung
24. November 2014DW: Die Frage, ob das Kunstmuseum Bern das Gurlitt-Erbe annimmt, ist entschieden. Was bedeutet das "Ja" zu diesem Erbe für Sie als Nachfahre von Juden, die auch enteignet wurden?
Michael Wolffsohn: Das ist eine mehrschichtige Entscheidung – wie bei dieser Problematik grundsätzlich. Das Museum in Bern hat seinen Sitz bekanntlich in der Schweizer Hauptstadt. Die Schweiz ist in der NS-Ära alles andere als unbeschädigt geblieben, jedenfalls aus der heutigen Perspektive. Ob sozusagen die Flucht aus Deutschland in die weltpolitisch neutrale Schweiz eine wertpolitische Neutralität bedeutet, wage ich zu bezweifeln. Der Jüdische Weltkongress hat nicht zu Unrecht schon thematisiert und angekündigt, die Rolle der Schweiz in diesem Zusammenhang zu prüfen. Mir scheint, man kommt vom Regen in die Traufe. Entscheidend ist: Der Wille der Bundesregierung war vorhanden, diese Sammlung nach Bern zu bringen; das schien in deutschem Interesse zu sein. Man wollte einfach das Thema loswerden.
Ihr Großvater Karl Wolffsohn eröffnete 1928 und 1929 zwei Lichtspielhäuser, die "Lichtburg" in Berlin und in Essen. Beide Kinos wurden durch die Nazis enteignet. Ist Ihre Familie entschädigt worden?
Mein Großvater wurde wie alle Juden, die Eigentum im Dritten Reich besaßen, relativ früh und sukzessive enteignet. Von der Bundesrepublik Deutschland wurde nur ein Teil zurückerstattet. Das war nicht nur ihre Schuld. Man darf nicht übersehen, dass die Westalliierten, allen voran die USA, in den 1950er Jahren die Überzeugung vertraten, dass die BRD wirtschaftlich nicht das strategische Ziel der Wiederaufrüstung erreichen könnte. Die weltpolitische Weichenstellung in der Zeit des Kalten Krieges, die Priorität der Westalliierten hieß: Wiederaufrüstung Deutschlands. Nichts gegen Wiedergutmachung, aber im Konfliktfall 'Wiederaufrüstung oder Wiedergutmachung' geht die Entscheidung zugunsten der Wiederaufrüstung. Deswegen haben die USA die Bundesrepublik nun wahrlich nicht aktiviert, die Wiedergutmachung in Gänze zu leisten. Sie ist in weitgehenden Teilen doch erfolgt, aber eben nicht vollständig, und ein großer Teil des Eigentums meines Großvaters – wie auch das Eigentum vieler anderer Juden - wurde nicht erstattet. Das war ein Gewinn für die deutsche Volkswirtschaft.
Bei vielen Werken aus der Gurlitt-Sammlung handelt es sich offensichtlich um NS-Raubkunst. Die Enteignung liegt rund 70 Jahre zurück. In diesem Zusammenhang fällt oft das Stichwort "Verjährung". Was sagen Sie dazu?
Es stellt sich die Frage: Bis in welche Generation ist Wiedergutmachung zu leisten? Hat die Verjährung, die es ja gibt, nicht auch einen moralischen Sinn? Das sind ganz schwierige Fragen. Ich persönlich und meine Familie, wir haben beschlossen, dass die Verjährung in der dritten Generation, das bin also ich, eintreten muss - um des Friedens willen.
Das ist eine sehr weise, aber bestimmt keine leichte Entscheidung.
Es ist die Sichtweise, dass nach der Vergangenheit Gegenwart und Zukunft folgen. Und die Zukunft - das ist eine der Lehren aus der Geschichte - sollte friedlich gestaltet sein. Ich bin kein geborener Märtyrer oder nachgeborener Märtyrer, so wenig wie die meisten Nichtjuden als Nachfahren von Tätern geborene Täter sind. Die Nachfahren der Täter und die Nachfahren der Opfer haben, so sehe ich das, die innere Verpflichtung, partnerschaftlich zusammenzukommen und gemeinsam ein moralisches Gemeinwesen aufzubauen und zu festigen.
Sie setzen darauf, dass man das Thema ruhen lässt. Das sehen nicht alle so.
Ich kann meine Position nur empfehlen und aus den genannten Gründen für sie werben. Ich betrachte mich und meine Person als Teil eines Ganzen und meine Empfehlungen als Empfehlungen an ein größeres Ganzes. Ich kann das nicht verordnen, nicht erzwingen, aber versuchen zu überzeugen.
Vor dem Hintergrund der Debatte um die Gurlitt-Sammlung hat Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, die Rückgabe der vom NS-Regime als "entartete Kunst" verbannten Bilder an deutsche Museen gefordert. Wie sehen Sie das?
Die Frage "Rückgabe der Bilder oder nicht" ist viel zu eng gestellt. Warum nur Kunst und nicht Meißner Porzellan oder Immobilien und so weiter? Die Antwort ist klar: Weil das im Moment diskutiert wird. Aber dieser Teilbereich der Diskussion deckt ja nicht die gesamte Problematik ab. Die Frage heißt nicht "Rückgabe entarteter Kunst", sondern die Frage heißt "Rückgabe und / oder Entschädigung ja oder nein" oder Verjährung. Das heißt ja nicht, dass das Unrecht dadurch nicht geschehen wäre. Aber was wollen wir heute und morgen? Wir, das sind die Nachfahren der Opfer und die Nachfahren der Täter. Was verbindet uns? Die gemeinsame Verpflichtung, keine Gräben aufzureißen - wohlwissend, dass es in der Vergangenheit diesen tiefen Graben, nein, diesen Abgrund gegeben hat.
Nach deutschem Recht sind alle Ansprüche der Eigentümer auf Herausgabe der Kunstwerke nach 30 Jahren verjährt. Trotzdem versucht eine extra ins Leben gerufene Taskforce, die Herkunft der Bilder zu klären, um sie gegebenenfalls den Eigentümern zurückzugeben. Ist die deutsche Justiz bei Themen, die das Nazi-Regime betreffen, besonders sensibilisiert?
Das ist nicht nur ein deutsches Problem. In Israel wird die gleiche Frage gestellt, weil die politische Führung und auch die Gesellschaft sagen, dass das Unrecht, in welcher Weise auch immer, gesühnt werden muss. Das sind wichtige moralische und politische, geradezu rechtsphilosophische Fragen mit praktischen Auswirkungen – nicht nur in Deutschland. Das man sich damit auseinandersetzt, ist moralisch notwendig und absolut richtig; ich plädiere aber für eine Verjährung. Darüber hinaus handelt es sich ja oft um wertvolle Kunstgüter. Da stellt sich die Frage, ob hier nicht ein so großes allgemeines Interesse vorhanden ist, dass sie der Öffentlichkeit und nicht nur privat zugänglich gemacht werden sollen. Aber natürlich soll man kennzeichnen, dass es sich um Raubgut handelt.
Michael Wolffsohn ist einer der führenden Experten, wenn es um die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden auf staatlicher, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Ebene geht. Der 1947 in Tel Aviv geborene Sohn einer 1939 nach Palästina geflüchteten jüdischen Kaufmannsfamilie übersiedelte 1954 mit seinen Eltern nach West-Berlin. Von 1981 bis 2012 lehrte er als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Er hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Fachartikel verfasst.
Bibliographie:
Werke des Historikers Wolffsohn zum Thema:
"Wem gehört das Heilige Land?" (Piper-Taschenbuch, 11. Auflage 2014),
"Juden und Christen" (Patmos-Verlag, 2. Auflage 2008);
"Zum Weltfrieden" (dtv, April 2015)