Wohin steuert Europa?
22. April 20041. Ist die Erweiterung notwendig?
2. Welche wirtschaftlichen Vorteile bringt sie mit sich?
Die wirtschaftliche Verflechtung und der ökonomische Aufholprozess der mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) bewirken zusätzliches Wirtschaftswachstum für die neuen und die alten EU-Mitgliedsstaaten. Deutschland profitiert vom Handel mit den MOEL: Im Jahr 2001 gingen 11,6 Prozent des deutschen Exports in die Region; dies bedeutet einen Zuwachs von 16,9 Prozent gegenüber 2000. Der MOE-Export entspricht inzwischen dem deutschen Export in die USA. Der deutsche Überschuss im Handel mit allen MOEL betrug im selben Jahr fast eine Milliarde Euro. Für die heutigen 15 EU-Mitgliedstaaten wird die Osterweiterung nach Schätzung der EU-Kommission insgesamt 0,5 Prozent bis 0,7 Prozent zusätzliches Wirtschaftswachstum pro Jahr erzeugen. Am meisten profitieren werden Deutschland und Österreich: Hier wird mit einer jährlichen Wachstumssteigerung von bis zu einem Prozentpunkt gerechnet. Überdies können westeuropäische Unternehmen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit steigern, indem sie zu niedrigeren Lohnkosten in den MOEL produzieren. Die Länder der Region verfügen über besonders hoch entwickelte Humanressourcen, die gewährleisten, dass sich eine intra-industrielle Arbeitsteilung wie im Verhältnis zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn herausbilden wird.
3. Und welche Risiken?
Wenn es den Regierungen nicht gelingt, den Verfassungsentwurf des europäischen Konvents zu übernehmen, kann es nach der Erweiterung zu einer Lähmung der EU-Entscheidungsprozesse kommen. In diesem Fall könnte der europäische Integrationsprozess zunehmend durch Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit abgelöst werden, die - nach all den historischen Erfahrungen mit Spannungen unter den europäischen Nationalstaaten - große Risiken mit sich bringen. Ein weiteres Risiko droht von populistischen Parteien und Bewegungen in Europa, die die Osterweiterung dazu missbrauchen, Ängste unter den Bürgern zu schüren und für ihre Zwecke zu mobilisieren.
4. Wie soll die Erweiterung bezahlt werden? Ist sie bezahlbar?
5. Wie wird die Erweiterung im Alltag spürbar?
6. Wie wirkt sich die Erweiterung auf die Arbeitslosigkeit aus?
Strukturschwache Grenzregionen, gering qualifizierte Arbeitskräfte und lohnkostenintensive Branchen werden mit verschärfter Konkurrenz aus den MOEL konfrontiert und müssen mit zunehmender Arbeitslosigkeit rechnen. Dies sind jedoch nicht spezielle Auswirkungen der Osterweiterung, sondern primär Effekte der allgemeinen Globalisierung, die sich auch ohne die Erweiterung eingestellt hätten. Außerdem schafft bzw. erhält der mit der Erweiterung zu erwartende Handelszuwachs auch Arbeitsplätze in anderen Branchen und Regionen. Ökonomen haben geschätzt, dass der EU-Außenhandelsüberschuss mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei unmittelbar ca. 65.000 Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe (in Deutschland ca. 44.000) und unter Einbezug mittelbarer Effekte ca. 114.000 (in Deutschland ca. 77.000) Arbeitsplätze sicherte. Eine "spektakuläre Arbeitsmigration" aus den MOEL ist - u. a. aufgrund der mehrjährigen Übergangszeit bis zur Einführung der Freizügigkeit - nicht zu erwarten: Es werden in erster Linie hoch qualifizierte Arbeitskräfte und Fachkräfte sowie Grenzarbeitnehmer mit befristeter Zuwanderungsdauer sein, die ihr Glück auf den Arbeitsmärkten der westeuropäischen Mitgliedstaaten versuchen. Mit starken Effekten gerade auf den deutschen Arbeitsmarkt ist daher kaum zu rechnen.
Lesen Sie im zweiten Teil die Antworten zu folgenden Fragen: Was passiert mit dem Lohnniveau in der erweiterten EU, kommt es zu massiven Wanderungsbewegungen und steigt die Kriminalität? Was denken eigentlich die anderen Supermächte über die erweiterte EU?
7. Was passiert mit dem Lohnniveau in der erweiterten EU?
Da die zu erwartende Arbeitsmigration aus den MOEL in die EU, das EU-MOEL-Handelsvolumen und das wirtschaftliche Gewicht der neuen Mitgliedstaaten innerhalb der erweiterten EU relativ gering sind, wird sich das Lohnniveau in den heutigen EU-Mitgliedstaaten durch die Erweiterung insgesamt nicht wesentlich verändern. In den Grenzregionen, lohnkostenintensiven Branchen und bei gering qualifizierten Arbeitskräften erhöht sich jedoch der Konkurrenzdruck und damit auch der Druck auf das Lohnniveau. In den neuen Mitgliedstaaten ist vor allem aufgrund der Produktivitätssteigerungen mit einer schrittweisen Erhöhung des Lohnniveaus zu rechnen.
8. Kommt es zu großen Migrationsbewegungen?
9. Wird Europas Stellung in der Welt gestärkt?
Ja, denn die Erweiterung vergrößert den europäischen Binnenmarkt um etwa 170 Millionen Bürger (ca. 45% der heutigen EU-Bevölkerung) und exponiert die Union in der Nachbarschaft zum Balkan, zum Nahen Osten sowie zu den osteuropäischen GUS-Staaten. Ob Europa dieses Potential nutzt, hängt jedoch davon ab, dass es den EU-Mitgliedstaaten gelingt, eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln.
10. Wird die organisierte Kriminalität steigen?
Ein Zusammenhang zwischen der Erweiterung und dem Niveau organisierter Kriminalität besteht nur insofern, als die Erweiterung durch mittelfristige Wohlstandssteigerung indirekt mäßigend auf das Kriminalitätsniveau wirkt. Bereits jetzt haben die alten und neuen Mitgliedstaaten eine enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet der inneren Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung eingerichtet, die schrittweise in den gemeinschaftlichen Entscheidungsprozess überführt wird. Die Übernahme der Schengen-Bestimmungen, die Stärkung von EUROPOL sowie Transfers von Finanzmitteln und Know-How werden die neuen Mitgliedstaaten dabei unterstützen, das organisierte Verbrechen wirksamer zu bekämpfen. Die Grenzkontrollen zwischen den alten und neuen Mitgliedstaaten werden erst dann aufgehoben, wenn die neuen Mitgliedstaaten ihren Teil der EU-Außengrenze wirksam schützen können.
11. Wie wird die Erweiterung von Supermächten wie China, USA und Russland gesehen?
Die USA befürworten die EU-Erweiterung, da sie als wichtiges Mittel zur Stabilisierung und Demokratisierung Osteuropas gesehen wird. Zudem vertreten die neuen Mitgliedstaaten eine Stärkung der transatlantischen Dimension der NATO. Die USA haben der EU auch mehrfach nahegelegt, das NATO-Mitglied Türkei in die Europäische Union aufzunehmen. Während Russland einer NATO-Erweiterung traditionell skeptisch gegenüberstand, hat es keine prinzipiellen Einwände gegenüber der EU-Erweiterung erhoben. China betrachtet die Europäische Union als einen der wichtigsten Pole in einer multipolaren Welt. Eine Erweiterung der EU kommt Chinas Interesse an zunehmender ökonomischer Kooperation mit Europa entgegen.
12. Wie viele Mitglieder kann die EU noch aufnehmen?
Dies hängt zum einen davon ab, ob die heutigen EU-Mitgliedstaaten in der Lage sind, die Institutionen und Entscheidungsprozesse der EU so zu reformieren, dass auch eine Union mit 25 und mehr Mitgliedern noch funktionsfähig ist. Um diese Funktionsfähigkeit zu gewährleisten, sollte in mehr Politikbereichen nach dem Mehrheitsprinzip statt mit Einstimmigkeit entschieden werden, und der Rat sollte in Zukunft seine Beschlüsse mit der doppelten Mehrheit von Staaten und Bevölkerung fassen, wie vom Konvent vorgeschlagen. Zum anderen hängt die Aufnahmefähigkeit der EU mit dem strategisch-politischen Sinn und Zweck künftig folgender Erweiterungen zusammen. So hat z. B. die Eröffnung einer Beitrittsperspektive die Demokratisierung und die Friedensstabilisierung auf dem Balkan befördert; eine Südosterweiterung erscheint deshalb als sinnvolles Projekt für die weitere Stabilisierung und Entwicklung dieser Region. Zugleich sollte die EU einen attraktiven Nachbarstatus einrichten, der für beitrittsinteressierte Länder in ihrer Nachbarschaft all die faktischen Vorteile bietet, die mit einem Mitgliedstatus verbunden sind. Dann hätten Länder wie die Türkei oder die Ukraine eine überzeugende Alternative zur Vollmitgliedschaft.