Der entscheidende Bezirk
22. Oktober 2012Joe Matta ist gerade am Rücken operiert worden, er hat Probleme mit den Knien und muss sich zum Gehen noch auf einen Stock stützen. Aber dennoch steht der großgewachsene 66-Jährige in der schwülen Augusthitze auf der 7. Avenue in Tampa, im US-Bundesstaat Florida. Am Informationsstand des AARP, des amerikanischen Interessenverbandes der Senioren, will er für das Thema werben, das ihm wichtig ist: dass die staatliche Krankenversicherung für die Älteren, Medicare genannt, erhalten bleibt.
"Nicht nur wir über 55-Jährige sollten versichert sein", erklärt Matta, "für die jüngeren, meine Kinder und Enkel, sollte genauso gesorgt werden wie für uns, und nicht weniger." Dem zweifachen Vater und vierfachen Großvater, der seine Parteizugehörigkeit mit "Republikaner" angibt, gefällt deshalb gar nicht, was der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney vorhat: Er will Medicare für die Jüngeren durch ein "Gutscheinsystem" ersetzen. Die zukünftigen Senioren müssten sich damit bei privaten Krankenkassen versichern. Inwieweit der Gutschein die tatsächlichen, ständig steigenden, Versicherungskosten deckt, ist offen.
Mitt Romney und die Republikaner, sagt Joe Matta, seien seit den 80er Jahren so weit nach rechts gerückt, dass er sie nicht mehr unterstützen könne: "Es hat den Anschein, als würden sie sich um die Menschen überhaupt nicht mehr kümmern." So wie Joe Matta denken viele Menschen in Florida, wo 2008 ein Fünftel der Wähler 65 Jahre oder älter waren. Nach einer Studie der Washington Post und der Kaiser Family Foundation wollen 65 Prozent der Menschen in Florida, dass Medicare so bleibt, wie es ist. Und wer Medicare als wichtig erachtet, wählt Obama.
Wahlbeteiligung ist entscheidend
Das gibt dem Präsidenten einen Vorteil in Florida, einem der Bundesstaaten, die für die Wahl entscheidend ist. Denn in Florida ist es immer knapp. Das Drama um die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zur Stimmenauszählung 2000 zugunsten von George W. Bush ist jedem hier noch präsent, 2004 ging Florida mit 52 Prozent der Stimmen an den Republikaner Bush, 2008 mit knapp 51 Prozent an den Demokraten Barack Obama. Hillsborough County, der Bezirk um Tampa, stimmte jeweils für den Sieger.
In dem breiten Streifen von Tampa, an der Westküste Floridas, bis Orlando, schräg gegenüber Richtung Ostküste, leben nahezu die Hälfte alle Wähler Floridas, erklärt die Politikwissenschaftlerin Susan McManus von der Universität South Florida. "Es ist zur Hälfte aufgeteilt zwischen Demokraten und Republikanern, mit einem Viertel unabhängige Wähler; es ist klar der Wechselwählerbereich des Wechselwählerstaates."
Begeisterung für Obama hat nachgelassen
Die 60-jährige Sally Phillips ist eine der Delegierten der demokratischen Partei, die Präsident Obama auf dem Parteitag in Charlotte zum Präsidentschaftskandidaten nominiert haben. Ihre Partnerin hatte sie nach Charlotte begleitet. Sally ist die Vorsitzende der demokratischen Fraktion der Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen von Florida. Sie hat 35 Jahre bei General Motors gearbeitet und ist gerade in Rente gegangen. "Wir sind die Mittelklasse", erklärt sie im Bezirksbüro der Demokraten von Hillsborough County, das im Südwesten Tampas liegt, "wir müssen sicher stellen, dass die Mittelklasse geschützt ist, denn sie ist das Fundament einer starken Gesellschaft."
Sally, die schon seit Jahrzehnten Demokraten im Wahlkampf unterstützt, gibt zu, dass die Begeisterung seit 2008 nachgelassen hat. "Dieses Jahr sind die Leute nicht so motiviert, denn sie sind nicht so glücklich mit Obama." Das habe aber damit zu tun, rechtfertigt sie den Präsidenten, dass er es mit Republikanern im Kongress zu tun habe, die es sich zur Aufgabe machten, ihn scheitern zu lassen. "Aber wenn der Präsident scheitert, scheitern auch die Amerikaner."
Romney/Ryan als überzeugende Kombination
Chris Mitchell, der Bezirksvorsitzende der Demokratischen Partei, stimmt ihr zu. "Wenn Obama nicht wiedergewählt wird, dann ist das ein Wendepunkt in der Geschichte des Landes". Die zukünftige Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik stünden auf dem Spiel. Eigentlich könnten sich die Demokaten in Hillsborough County zurücklehnen, denn sie haben 55.000 mehr registrierte Wähler als die Republikaner. Doch zum einen, meint auch Chris Mitchell, würden die unabhängigen Wähler die Entscheidung bringen. Und zum anderen sind auch die Republikaner nicht ohne Grund siegesgewiss.
Art Wood, der Vorsitzende der Republikanischen Partei scherzt, Hillsborough County würde "nur über seine Leiche" an die Demokraten gehen. "Wir sind wesentlich motivierter als vor vier Jahren", erklärt er. Damals seien nach den Vorwahlen viele Republikaner enttäuscht gewesen, und hätten sich nicht hinter den Kandidaten John McCain geschart. Jetzt sei das anders. Dafür habe auch die Nominierung des fiskalkonservativen Paul Ryan als Vizepräsidentschaftskandidat gesorgt. "Die Verschmelzung von Ryan mit seinen Plänen und Romney mit seiner Vision, das ist eine großartige Kombination", sagt Wood.
Arbeitslosigkeit Thema Nummer 1
Die Menschen in Hillsborough County interessierten die gleichen Themen wie anderswo auch, erklärt Art Wood: Jobs, Schulden, die schlechte Wirtschaftslage. "Jeder kennt irgendjemanden, dessen Haus zwangsversteigert wird, oder dessen Partner oder Kind arbeitslos ist oder einen, der gerade mit der Uni fertig ist, und der bei den Eltern leben muss."
Seit 2009 ist die Arbeitslosenquote in Florida und Hillsborough County genau wie im ganzen Land gestiegen. In Florida aber lag sie lange über dem Landesdurchschnitt, 2011 waren es, auch in Hillsborough County, 10,5 Prozent.
Inzwischen gehen die Arbeitslosenzahlen - wie im ganzen Land - wieder nach unten, gute Nachrichten für Präsident Obama und die Demokraten. Dass sie in Hillsborough County mehr registrierte Wähler haben, beeindruckt Wood nicht: Viele Demokraten würden bei der Wahl ihr Kreuz bei einem republikanischen Kandidaten machen. Davon berichtet auch Henry Gonzalez, ein 44-jähriger Banker, der seit dem Sommer arbeitslos ist: "Mein Vater wird im November 76 Jahre alt und bis vor drei Jahren war er bei den Demokraten registriert, obwohl er immer Republikanisch gewählt hat." Das habe daran gelegen, dass sich bis vor kurzer Zeit vor allem Demokraten um lokale Ämter beworben hätten. Wer nicht bei den Demokraten registriert war, hatte in den Vorwahlen keine Stimme. Doch inzwischen ist das anders. Henry Gonzalez hat seine Parteizugehörigkeit vor zehn Jahren gewechselt, seine Mutter vor fünf Jahren.
Henry Gonzalez sagt, für seine Wahlentscheidung zählt vor allem die Wirtschaftslage. Und ihm gehe es nicht besser als vor vier Jahren. "Meine Steuern sind höher, prozentual gemessen an meinem Einkommen, für meine Krankenversicherung muss ich das gleiche ausgeben, aber alle anderen Kosten, zum Beispiel für die Schule der Kinder, sind gestiegen, aber mein Einkommen konnte da nicht mithalten."
Es wird also wieder knapp in Hillsborough County und damit auch in Florida. Denn es gibt "keinen Bezirk, der so gut voraussagt, für wen Florida sich entscheidet, wie Hillsborough County", sagt die Politikwissenschaftlerin Susan McManus. Hillsborough ist, wie Florida, der Mikrokosmos der amerikanischen Gesellschaft. Es gibt Junge und Alte, ländliche und urbane Gegenden und die Vororte von Tampa. Hier leben Afro-Amerikaner, Latinos aus Kuba und von anderswo. Ein Viertel der Wähler gehört einer Minderheit an. Jeder hat seine eigene Geschichte und seinen eigenen Grund, für wen er sich letztlich entscheidet. Die Parteizugehörigkeit ist da nicht immer entscheidend.