Die Villa am Wannsee
20. Januar 2012In Nürnberg finden gerade die Prozesse gegen Beamte des Auswärtigen Amtes statt, als dem stellvertretenden Hauptankläger Robert Kempner im März 1947 ein Stapel Akten des Reichsaußenministeriums in die Hände fällt. Ein Dokument erregt sein besonderes Interesse. "Geheime Reichssache!" ist in roter Farbe auf das Deckblatt gestempelt. Der Fund ist eine Sensation. Das "Besprechungsprotokoll", wie der 15 Seiten umfassende Text bürokratisch nüchtern überschrieben ist, gilt als entscheidender Beleg für die systematische Vernichtung der europäischen Juden.
Die Villa ist seit 1992 eine Gedenkstätte
30 Ausfertigungen hat es über die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" gegeben. Nur diese eine Abschrift ist erhalten geblieben. Sie bildet die Grundlage und Voraussetzung für das Haus der Wannsee-Konferenz in seiner heutigen Funktion. Der historische Ort ist seit 1992 eine Gedenkstätte, in der es eine Dauerausstellung und pädagogische Angebote gibt. Die hochherrschaftliche Villa befindet sich abseits der zentral gelegenen touristischen Pfade am südwestlichen Stadtrand. Trotzdem nehmen immer mehr historisch Interessierte den weiten Weg auf sich.
Die meisten ausländischen Besucher sind Israelis
Seit der Eröffnung 1992 hat sich die Besucherzahl auf zuletzt gut 105.000 fast verdoppelt, freut sich Gedenkstättenleiter Norbert Kampe. Zwei Drittel der Besucher kommen aus dem Ausland, die meisten aus Israel. Das hat viel mit Adolf Eichmann zu tun, der als SS-Obersturmbannführer des Reichssicherheitshauptamtes vor 70 Jahren das Protokoll der Wannsee-Konferenz geschrieben hat. Als einem der meistgesuchten Kriegsverbrecher wurde ihm 1961 in Jerusalem öffentlich der Prozess gemacht. Auf die Frage, was auf der Konferenz besprochen worden sei, antwortete er: "Da sind die verschiedenen Tötungsmöglichkeiten besprochen worden."
Konkrete Hinweise darauf, dass und wie die Juden ausgelöscht werden sollen, finden sich in dem Protokoll nicht. Doch bei genauer Lektüre wird deutlich, dass mit der Formulierung "Evakuierung nach dem Osten" nichts anderes gemeint sein kann. Trotzdem sprach der Historiker Eberhard Jäckel noch zu Beginn der 1990er Jahre in Bezug auf die Wannsee-Konferenz von einem "Rätsel". Inzwischen sei man da aber viel weiter, sagt Jäckels Kollege Peter Klein, der anlässlich des 70. Jahrestages der Konferenz ein internationales Historiker-Treffen in Berlin organisiert hat.
Bankrotterklärung der Ministerialbürokratie
Zwei Interpretationen prägten die Diskussion, erläutert Klein. Hitler habe kurz vor der Einladung zur Wannsee-Konferenz einen Beschluss gefasst, die "Judenfrage" endgültig zu klären. Dieser Beschluss sei an seine engsten Mitarbeiter, Gau- und Reichsleiter weitergegeben worden. "Und es gibt die zweite Interpretation, wonach die Wannsee-Konferenz nur ein Schritt auf dem Weg zum Massenmord an allen Juden darstellt." Bahnbrechende neue Erkenntnisse wird es nach Kleins Einschätzung nicht mehr geben. Historisch unumstritten sei der Befund, dass es sich bei dem Treffen der 15 hochrangigen Nazis um eine "Bankrotterklärung" der deutschen Ministerialbürokratie handelt. Aus den Kreisen von Reichskanzlei, Reichsinnen- und Reichsaußenministerium finde man nicht "den Hauch eines Protestes, sondern ganz im Gegenteil sogar Zustimmung", betont Klein.
Historiker inszenieren ein Theater-Projekt
Geleitet wurde die Wannsee-Konferenz vom Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich. Die Hälfte der Teilnehmer war promoviert. Es handelte sich also um eine akademisch hoch gebildete Runde, die routiniert geschäftsmäßig die Ausrottung der Juden besiegelte. In ihre Gedankenwelt, in ihre Psyche versuchen sich derzeit 15 Historiker zu versetzen, die sich 70 Jahre nach dem Ereignis am historischen Ort auf ein Dokumentar-Theater-Projekt eingelassen haben. Seit November laufen die Proben der Laien-Darsteller. Einer von ihnen ist Hans-Christian Jasch, der sich mit der Rolle von Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart aus dem Reichsinnenministerium auseinandersetzen muss. Eine Annäherung, die er reizvoll, aber auch belastend findet.
Richard von Weizsäcker eröffnete die Gedenkstätte
Laut Protokoll der Wannsee-Konferenz regte Stuckart die Zwangssterilisierung von sogenannten Mischlingen an, womit in der Terminologie der nationalsozialistischen Rassenideologie die Kinder aus Ehen zwischen Juden und Ariern gemeint waren. Stuckart sei ein "sehr unangenehmer Charakter" und auch das Thema sei sehr unangenehm, beschreibt Historiker Jasch den Zwiespalt. Mit diesem Problem seien natürlich alle Darsteller konfrontiert. Man habe es durchweg mit Personen zu tun, die keine "positive Identifikation" ermöglichten. Wenn sich Historiker mit der "Endlösung der Judenfrage" auf diese für Wissenschaftler unorthodoxe Weise auseinandersetzen, zeigt das, wie vielschichtig und herausfordernd die Wannsee-Konferenz auch 70 Jahre danach noch immer ist. Der Wortlaut des Protokolls ist nur eine Ebene, seine Deutung eine andere.
Das historische Ereignis der Wannsee-Konferenz im engeren Sinne ist in der 1992 vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eröffneten Gedenkstätte natürlich das zentrale Thema. Aber davon abgeleitet befassen sich vor allem die vielen jungen Besucher auch mit aktuellen Fragestellungen. Neonazismus und Rechtsextremismus im 21. Jahrhundert, gerade unter dem Eindruck der im November 2011 bekannt gewordenen Mordserie in Deutschland kämen oft zur Sprache, erzählt Gedenkstättenleiter Norbert Kampe.
Vom Ort der Täter zur pädagogischen Einrichtung
Mitunter gehe es dann ziemlich heikel zu, etwa wenn Berliner Schüler dabei seien, deren Eltern Palästinenser oder Araber sind. Dann sage schon mal einer, was Hitler damals den Juden angetan habe, würden die Israelis doch heute mit den Palästinensern tun, nennt Kampe ein besonders krasses Beispiel. Auf solche Äußerungen müsse man verantwortungsvoll reagieren. "Wir hoffen, dabei aufklärend tätig sein können." Das Haus der Wannsee-Konferenz sei schließlich eine pädagogische Einrichtung, betont Kampe das Selbstverständnis und den Anspruch der inzwischen 20 Jahre alten Gedenkstätte. Historisch betrachtet ist und bleibt es ein Ort der Täter in Europas größter Villen-Kolonie.
Autor: Marcel Fürstenau
Redaktion: Gudrun Stegen