"Springer kuscht vor China"
5. Oktober 2018Deutsche Welle: Der Verlag hatte im November 2017 vermeintlich regierungskritische Inhalte von seiner chinesischen Website entfernt. Betroffen waren mehr als tausend Publikationen. Was ist Ihr Hauptkritikpunkt an Springer?
Rudolf Wagner: Der Hauptpunkt ist der, dass wir grundsätzlich und unabhängig von China sagen: Kein Land kann bestimmen, welche wissenschaftlichen Informationen zugänglich sind und welche nicht. Das verstößt ganz fundamental gegen das Prinzip der Freiheit der Wissenschaft. In China gibt es sehr intensive Maßnahmen zur Kontrolle der Presse, des Internets und der Informationen. Und wenn nun Springer anfängt, diese Kontrollen auch noch international auszudehnen, dann lehnen wir das ab.
Woran haben die chinesischen Behörden Anstoß genommen?
Zunächst ist festzuhalten, dass die herausgenommenen Veröffentlichungen nicht gegen chinesische Gesetze verstoßen haben. Es gibt in Deutschland auch Gesetze, die bestimmte Inhalte verbieten. Sie können hier beispielsweise keine Nazi-Propaganda veröffentlichen. Aber in China ist das gar nicht der Fall. Hier gibt es eine informelle Anordnung der Propagandaabteilung, die sich aber wiederum gar nicht auf wissenschaftliche Aufsätze bezieht, sondern in der es nur um bestimmte Themen im chinesischen Internet geht. (Zu dieser Aussage nimmt der Verlag Springer Nature wie folgt Stellung: "Solche Richtlinien haben in China einen anderen Stellenwert. Ein Verlag, der sich nicht an diese hält, hat mit entsprechenden Konsequenzen zu rechnen." - Red.)
Dazu gehören Tiananmen, die Kulturrevolution und viele andere Dinge. Die für den Vertrieb der Publikationen von Springer zuständige Person ist offenbar im vorauseilenden Gehorsam gegenüber der Propagandaabteilung dazu übergegangen, Springer zu raten, bestimmte Texte herauszunehmen. Springer hat keinen Brief bekommen, mit der Aufforderung, bestimmte Texte herauszunehmen, weil sie gegen Gesetze verstoßen. Davon ist gar keine Rede. Sondern es ist eine informelle Mitteilung des Vertriebs in China.
Wie bewerten Sie die folgsame Reaktion des Verlags auf den "Ratschlag" der chinesischen Seite?
Springer ist kein kleiner Verlag. Er veröffentlicht Springer Nature und ähnliche Zeitschriften. Das heißt, er spielt eine große Rolle in der internationalen Medien- und Wissenschaftswelt. Wenn die Verantwortlichen gesagt hätte: Entweder ihr nehmt das ganze Paket oder gar nichts, dann hätte die chinesische Führung sich entscheiden müssen. Das hätte bedeutet, dass die wichtigsten Universitäten (wie die Tsinghua-Universität in Peking, Artikelbild) nicht mehr an Springer Nature heran kämen. Das wäre eine Katastrophe, vor allem mit Blick auf das Regierungsprojekt "China 2025" und für den Wissenschaftsstandort China.
Springer scheint zu sagen: Unser primäres Interesse ist, unsere Verkaufszahlen zu halten oder zu steigern. (Zu dieser Aussage nimmt der Verlag Springer Nature wie folgt Stellung: "Wir haben sowohl Herrn Wagner als auch seinen Kollegen bereits dargelegt, dass unser Hauptinteresse darin besteht, sicherzustellen, dass Wissenschaftler in China Zugang zu so vielen Inhalte wie nur möglich haben. Tatsächlich bedeutet dies für uns viel Arbeit auf unsere Kosten und führt eben nicht zu zusätzlichen Einnahmen." - Red.)
Die Frage unserer Verantwortung gegenüber unseren Autoren und auch gegenüber den chinesischen Lesern stellt Springer sich offensichtlich nicht. Denn die Leser wissen ja nicht, dass Springer über tausend Artikel herausgenommen hat. Insofern ist das ein Betrug nicht nur der Autoren, sondern auch der chinesischen Leser, die im Grunde genommen getäuscht werden über einen Zustand der internationalen Forschung, der einfach nicht korrekt ist.
Wer definiert, was richtig ist, was falsch ist, was gesagt werden darf und was nicht? Ich kann nicht verhindern, dass die Regierung in China das macht, aber ich kann verhindern, dass Springer das zu einer internationalen Regel macht. (Zu dieser Aussage nimmt der Verlag Springer Nature wie folgt Stellung: "In mehr als 180 anderen Märkten, in denen wir präsent sind, bleibt der Zugang uneingeschränkt und ist selbst in China auf anderem Wege möglich.")
Es gab einen ähnlichen Fall mit Cambridge University Press (CUP). Welche Lehren sollten Autoren und Verlage aus diesen Zensurversuchen Chinas ziehen?
Mit Cambridge University Press hat China dasselbe versucht wie im Fall Springer. Aber es gab sofort einen riesen Protest, denn im Gegensatz zu Springer hat CUP die Autoren informiert. Und das Ergebnis war, obwohl CUP nicht das Gewicht von Springer hat, dass der Verlag die zensierten Inhalte wieder eingestellt hat.
Jeder Autor sollte sich an seinen Verlag wenden und klarstellen, dass er keine Zensur akzeptiert. Dann müssten sich die Verlage zusammentun, um den Druck durch die Zensur zu reduzieren. Die großen Verlage haben ja ein gemeinsames Interesse. Springer will diese Zensur auch nicht. Die müssten sich zusammensetzen und die Frage beantworten: Wie gehen wir damit um? Wir vereinbaren eine gemeinsame Position und sagen, wir akzeptieren das nicht. Das wäre meines Erachtens der richtige Weg.
Und ich bin absolut sicher, dass die chinesische Führung, die ja sehr pragmatisch ist, nicht auf alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen verzichten wird. Sie wird sagen: Nun ja, das war ein Missverständnis.
Bedauerlich ist, dass sich die Naturwissenschaften da bisher völlig rausgehalten haben. Das wäre natürlich für Springer und China eine entscheidende Angelegenheit, wenn plötzlich die Autoren von "Nature" sagen, da machen wir nicht mit. Das wäre großartig. Aber bisher haben sie sich nicht geäußert.
Rudolf Wagner ist Sinologe an der Universität Heidelberg.
Das Interview führte Cao Haiye