Mexiko - neue regionale Führungsmacht?
7. Oktober 2018Mit der bevorstehenden Amtsübernahme des künftigen mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO)am 1. Dezember eröffnet sich für Mexiko die Möglichkeit, zur neuen regionalen Führungsmacht Lateinamerikas aufzusteigen. Der klare Wahlsieg mache Obrador zu einer demokratisch legitimierten Führungsfigur in der Region, meint der Historiker Rafael Rojas vom Zentrum für Wirtschaftsforschung und Lehre (CIDE) in Mexiko-Stadt der Deutschen Welle.
"Schon während des Kalten Krieges in den 70er und 80er Jahren spielte Mexiko eine wichtige Vermittlerrolle, etwa bei Beendigung der Kriege in Mittelamerika", erinnert Rojas. Die Gelegenheit, an diese Tradition anzuknüpfen, sei günstig – zumal die Region sich zunehmend polarisiere und alle anderen Mächte, die zeitweise Führungsrollen beanspruchten wie Venezuela, Brasilien oder die USA, sich in einer Krise befänden oder an Glaubwürdigkeit eingebüßt hätten.
"Der ganze internationale Kontext drängt Mexiko geradezu in diese Rolle", so Rojas. Fraglich ist, ob López Obrador, der sich bislang auf nationalistische Positionen zurückzog, dieses Vakuum auch ausfüllen wolle.
Abstand trotz Annäherung
Möglicherweise bleibt dem neuen Präsidenten Mexikos gar nichts anderes übrig, gibt Carlos Heredia vom CIDE zu bedenken. Bislang standen für Mexiko die Beziehungen zu den USA auf der Prioritätenliste ganz oben. Doch die protektionistische Agenda und die Launen des US-Präsidenten Donald Trump zwängen die mexikanische Diplomatie zu einer Neuausrichtung, sagt der USA-Experte.
Die ersten Kontakte zwischen dem Team von López Obrador und der US-Regierung waren zwar freundlich. Für Carlos Heredia handelt es sich dabei jedoch um diplomatische Pflichtübungen. "Beide sprechen eine andere Sprache. Wenn López Obrador Kooperation mit Mittelamerika sagt, meint er wirtschaftliche Hilfe und Entwicklung, Trump meint damit Abschiebungen, ein Bollwerk gegen Migration und Infrastrukturaufträge für US-Unternehmen."
Für Heredia ist es daher "dringlicher denn je, dass Mexiko seine nationalen Interessen klar definiert". „Gerade im Hinblick auf Mittelamerika ist es wichtig, dass sich Mexiko mit den südlichen Nachbarn eine eigene Regionalpolitik entwirft, die auch finanziell unabhängig ist von den USA", fordert Heredia. "Sonst entstehen Abhängigkeiten und drohen unzählige Probleme."
Putin kommt zur Amtseinführung
Bisher hat vor allem Trump die bilaterale Agenda diktiert und den Nachbarn damit überfahren. Mexiko und die USA haben eine über 3000 Kilometer lange Grenze, die Trump mit einer Mauer abschotten will. Der bilaterale Handel von jährlich 550 Milliarden US-Dollar beruht auf einem Freihandelsabkommen (NAFTA, künftig USMCA), das auf Trumps Drängen neu verhandelt wurde. In den USA leben rund 36 Millionen Mexikaner oder mexikanischstämmige Amerikaner, ein Sechstel davon illegal und durch Trumps harten Kurs von Abschiebung bedroht.
Auf den ungewohnten Gegenwind reagierte die Regierung unter dem scheidendenPräsidenten Enrique Peña Nietobisher beschwichtigend. Das dürfte sich unter AMLO, wie Lopéz Obrador in Mexiko genannt wird, ändern. Die USA hätten Mexiko abscheulich behandelt, sagte der designierte Außenminister Marcelo Ebrard, ehemaliger Hauptstadtbürgermeister, und ein weltgewandter Experte in internationalen Beziehungen. Erste Zeichen setzte er bereits – und zwar ausgerechnet mit der demonstrativ ausgesprochenen Einladung an den russischen Präsidenten Vladimir Putin zum Amtsantritt am 1. Dezember.
Russland hat in den vergangenen Jahren seine wirtschaftlichen Beziehungen nach Mexiko ausgebaut, unter anderem durch Investitionen im Erdölsektor und den Verkauf von Passagierflugzeugen. Putins Antrittsbesuch beim US-Nachbarn hätte aber eine neue Qualität. Mehr Multilateralismus, mehr außenpolitische Balance, ist seit langem eine Forderung von Akademikern, doch erst die Infragestellung und Neugestaltung von NAFTA hin zu USMCA durch Trump hat die Diversifizierung zu einer außenpolitischen Priorität gemacht.
Krisen im Süden
Auch auf der Südhalbkugel brennt es an allen Ecken und Enden. Das Abdriften der "bolivarischen Sozialisten" in Venezuela und Nicaragua in den Autoritarismus und die darauf folgende Migrationswelle haben zu einer regionalen Krise geführt. Mexiko stellte sich bislang auf die Seite der aus 17 Staaten bestehenden Lima-Gruppe, die die Verletzungen der Demokratie und Menschenrechte verurteilen, Dialog und Neuwahlen fordern.
Wird Mexiko diesen Kurs auch unter AMLO fortsetzen? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es noch nicht. Der designierte Außenminister Ebrard erklärte, man dürfe sich nicht vor den Karren der US-Agenda spannen lassen. Mexiko vertrete die Nicht-Intervention. Was das genau bedeutet, ob er damit nur die von radikalen Kreisen in den USA und Kolumbien favorisierte militärische Intervention meint, ließ Ebrard offen.
Ex-Außenminister Jorge Castañeda sieht die Gefahr, dass Mexiko sich zurückziehen und den autoritären Machthabern damit einen Gefallen tun könne – unter anderem als Zugeständnis an die radikale Basis AMLOs, um von anderen, schwer erfüllbaren Wahlversprechen abzulenken.
Das halten weder Rojas noch Heredia für wahrscheinlich. AMLO habe immer mit der eher gemäßigten, demokratischen Linken wie Lula da Silva in Brasilien und Michelle Bachelet in Chile sympathisiert, so Rojas. „Venezuela ist ruiniert, das linke Bündnis Alba gescheitert, davon hätte Mexiko keinerlei Nutzen", fügt Heredia hinzu.