Wird die NATO die Ukraine verteidigen?
1. Dezember 2021"Jede künftige Aggression gegen die Ukraine würde für Russland einen hohen Preis haben und schwerwiegende politische und wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen", warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg während des Außenministertreffens im lettischen Riga. Zwar räumte Stoltenberg ein, das Atlantische Bündnis habe keinen eigenen Mechanismus zur Verhängung von Sanktionen.
Doch gleichzeitig betonte er, die NATO sei das wichtigste transatlantische Forum zur Koordination politischer Maßnahmen. Immerhin würden die Verbündeten zusammen "50 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts repräsentieren". Zudem erklärte Stoltenberg, Russland habe "die Entschlossenheit von NATO-Staaten unterschätzt, nach der illegalen Annexion der Krim 2014 Sanktionen zu verhängen und aufrechtzuerhalten".
Doch so groß kann die Abschreckungswirkung der damals getroffenen Maßnahmen auf Russland nicht gewesen sein. Denn nun steckt die NATO einmal mehr in einer Debatte darüber, wie sie auf eine Aufstockung russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine reagieren soll.
Stoltenberg betonte bei dem Treffen in Riga immer wieder, dass der Ukraine als Nichtmitglied der NATO nicht das gleiche Maß an Verteidigung wie bei einem Verbündetem zukommt. Nichtsdestotrotz würden die Außenminister "Sanktionen und politische Reaktionen" gegen Russland sowie weitere Maßnahmen diskutieren, um Kiew zu unterstützen.
Nach des Kremls Drehbuch
Dem lettischen Verteidigungsminister Artis Pabriks gehen die Schritte in der Vergangenheit nicht weit genug. "Ich schäme mich dafür, dass nur wenige Länder in den letzten fünf Jahren tatsächlich fähig und bereit waren, die Ukraine auch militärisch zu unterstützen", sagt er der DW in einem Exklusivinterview.
Unter anderem kritisiert Pabriks diejenigen, die keine militärische Ausrüstung an die Ukraine verkaufen - in dem Glauben, so Frieden zu bewahren. "In Wirklichkeit spielen wir nach dem Drehbuch des Kremls. Das ist keine gute Sache und bringt uns der Sicherheit und dem Frieden nicht näher."
Doch die 30 NATO-Mitgliedsstaaten waren bislang nicht in der Lage, sich formell darauf zu einigen, was die russischen Militäraktivitäten bedeuten, geschweige denn, wie sie darauf reagieren sollen. Gustav Gressel von der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR) geht vom Schlimmsten aus: "Das russische Militär bereitet sich ernsthaft auf eine Invasion der Ukraine vor." Er fordert im DW-Interview die Verbündeten auf, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen.
Europa "extrem feige"
Ob Moskau tatsächlich zur Tat schreitet, ist eine andere Frage. Gressel glaubt, dass der russische Präsident Wladimir Putin sich des großen Risikos bewusst ist und sich unter Umständen abschrecken ließe. Eine Möglichkeit, die man versäumt habe, wäre es ihm zufolge gewesen, die Ukraine nach der Krim-Annexion mit tödlichem Militärgerät zu versorgen. "Wir haben sieben Jahre endlos darüber debattiert, ob wir das tun sollen oder nicht", beklagt der Politikwissenschaftler. "Ich muss wirklich vor allem den Europäern den Vorwurf machen, dass sie in dieser Diskussion extrem feige waren. Aber jetzt ist die Situation so, wie sie ist. Was sollen wir jetzt tun?"
Laut Gressel werden "dekorative Sanktionen" alleine nicht ausreichen. "Putin wird inzwischen wahrscheinlich ein gewisses Maß an Wirtschaftssanktionen miteinkalkuliert haben, das er für machbar hält." Die NATO müsse deshalb nun mehr wagen als nur Sanktionen in einzelnen Bereichen.
Als geeignete "unmittelbare Antwort" könnte sich Gressel die Beendigung des Pipeline-Projekts Nordstream 2 vorstellen sowie die Stationierung von Streitkräften in Ländern, die durch einen möglichen Krieg in der Ukraine am meisten gefährdet wären, etwa Polen, Rumänien und die Slowakei.
Putins Militäraufgebot nicht unterschätzen
Von der anderen Seite des Atlantiks meldet sich Ian Brzezinski mit nahezu demselben Ratschlag zu Wort. "Diejenigen, die in Russlands offensivem Aufrüsten nur Machtgehabe sehen, begehen womöglich denselben Fehler wie bei Russlands Invasion in Georgien, auf der Krim und dann in der Ostukraine. Da waren auch alle überrascht", sagt er der DW. "Diese militärische Mobilisierung ist nicht zu unterschätzen. Putin spricht davon, dass die ukrainische Unabhängigkeit ein Affront gegen die russische Geschichte sei. Einen weiteren Angriff auf die Ukraine auszuschließen, wäre unverantwortliches Wunschdenken."
Brzezinski war von 2001 bis 2005 stellvertretender Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium für Europa- und NATO-Politik, heute ist er für die Denkfabrik Atlantic Council tätig. Wie schon in der Krise zwischen Polen und Russland 1980 fordert Brzezinski Handels-, Energie- und Finanzsanktionen - nicht nur von den USA, sondern insbesondere auch von Deutschland und Frankreich. Er stimmt zu, dass die Streitkräfte an der Ostgrenze der NATO aufgestockt werden sollten. Zudem müssten ihm zufolge der Ukraine mehr Waffen und Militärübungen zur Verfügung gestellt werden, damit diese sich selbst verteidigen könne und die Kosten eines Einmarsches für Russland erhöht würden.
Eine Frage des politischen Willens
"Die Frage, vor der das Bündnis steht, ist nicht eine der transatlantischen wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten", ist sich Brzezinski sicher. "Es ist eine Frage des politischen Willens und der Entschlossenheit der transatlantischen Gemeinschaft. So wird das Ministertreffen in Riga von Putin und von der Geschichte bewertet werden."
Elisabeth Braw vom konservativen Think Tank "American Enterprise Institute" gibt dagegen eine ganz andere Empfehlung ab. Braw ist nicht damit einverstanden, auf Moskaus Aufrüstung mit einer Machtdemonstration zu reagieren - selbst wenn die Allianz alle widerstrebenden Mitglieder von so etwas überzeugen könnte. Sie glaubt, dass "Russland das sofort in der Weltöffentlichkeit als inakzeptables Verhalten darstellen würde und wahrscheinlich viel Unterstützung bekäme".
Die Expertin für Sicherheitspolitik schlägt vor, dass die Regierungen der NATO-Staaten das Problem auf andere Weise angehen: indem sie sich darauf einstellen, alle russischen Visa und Aufenthaltsgenehmigungen sofort zu annullieren, falls Putin weitere Schritte gegen die Ukraine unternimmt.
"Das wäre natürlich eine administrative Herausforderung", so Braw, "aber es könnte eine überragende Wirkung entfalten." Ihrer Ansicht nach könnte der Druck, den seine reichen, reisefreudigen Freunde dann auf ihn ausüben würden, Präsident Putin dazu bringen, "sein Kosten-Nutzen-Kalkül zu ändern". Ohne dass es zu Opfern an der russisch-ukrainischen Grenze käme.
Aus dem Englischen adaptiert von Ines Eisele.