"Wir sind das Volk!" - Fünf Jahre nach Gezi
28. Mai 2018Am fünften Jahrestag der Gezi-Proteste und einen Monat vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni war er plötzlich da: Der lange verschwunden geglaubte Geist der Gezi-Bewegung. Wie eine Welle der Hoffnung und Euphorie rollte er durch das Lager der Regierungsgegner. Bis vor kurzem noch hatten sie wenig Hoffnung auf eine Ablösung der AKP, die seit 2002 regiert. Doch mit einem Mal flammte der Geist des Widerstands, der vor fünf Jahren die Straßen beherrscht hatte, in den Sozialen Medien wieder auf.
Ironischer- oder bezeichnenderweise hatte Staatspräsident Erdoğan selbst diese Atmosphäre eingeläutet. In einer Rede Anfang Mai hatte er erklärt: "Das Volk hat mich in dieses Amt gebracht. Wenn mein Volk "Tamam" ("genug") sagt, trete ich zur Seite." Die oppositionelle Twitter-Community nahm ihn beim Wort. Innerhalb von Stunden wurde #Tamam zum Trending Topic weltweit. Seitdem will sie die zu Tausenden geteilten Tweets, Retweets, Memes und Gifs als Zeichen dafür sehen, dass ein Regimewechsel tatsächlich möglich ist.
#OccupyGezi war der Schlachtruf, unter dem Regierungskritiker aller Couleur, darunter Politiker, Schriftsteller und Künstler, vor fünf Jahren mit Referenzen zur Popkultur ihrer Kritik an der Politik der herrschenden AKP Ausdruck verliehen. Heute geht die #Tamam-Bewegung - auf die Erdoğan-Anhänger mit einer #Devam ("weiter") -Bewegung reagierten - in ihrer Intensität und in ihren Forderungen noch einen Schritt weiter. Sie fordert einen Regimewechsel zu einem der Kandidaten der Oppositionsparteien. Denn auch sie - bis dahin entweder opportunistisch oder unterdrückt, in jedem Fall aber passiv - waren mit einem Mal erwacht und zeigten Einheit gegenüber der zentralen Macht.
Wahlen werden an den Urnen gewonnen
Doch viele warnen: Wahlen werden nicht per Twitter, sondern an den Urnen gewonnen. Die eigene Cyber-Filterblase ist nicht die Türkei. Womöglich ist die Widerstandsbewegung in den vergangenen fünf Jahren reifer geworden. Reicht es also dieses Mal für einen Machtwechsel, vorausgesetzt, die Wahlen verlaufen ordnungsgemäß?
Seit 2013 konnte die AKP ihre Macht weiter festigen. Etwa durch das Referendum zur Verfassungsreform im April 2013 und besonders seit dem Putschversuch im Juli 2016. Immer härter geht sie gegen all jene vor, die ihre Politik nicht unterstützen. Auch etlichen Kulturschaffenden wurde neben tausenden von Beamten, Journalisten und Akademikern gekündigt. Einige wurden inhaftiert. Manche verließen das Land.
Füsun Demirel ist eine der bekanntesten Filmschauspielerinnen der Türkei. Die 1958 geborene und mit mehreren Preisen ausgezeichnete Darstellerin lebt in Istanbul. In einem Interview vor drei Jahren hatte sie erklärt, sie würde gerne eine Guerilla-Mutter spielen. Seitdem bekomme sie keine Rollen mehr. Wie viele ihrer Freunde und Kollegen unterstützte auch sie die Gezi-Proteste, in denen für sie der Geist der 1968er und '78er Jahre in der Türkei wieder erwachte. "Nach den Protesten stellte uns das Staatsfernsehen TRT nicht mehr ein. Es war, als würden ihm Listen mit Namen vorliegen. Die Gezi-Schauspieler wurden ausgegrenzt", sagt sie.
Keine Rollen für oppositionelle Schauspieler
Und auch in den vergangenen fünf Jahren sei die Situation für Künstler ähnlich prekär geblieben. "Diejenigen, die im Referendum mit 'nein' zum Präsidialsystem gestimmt und das über die Sozialen Medien geteilt hatten, wurden arbeitslos. Nicht nur der TRT, auch die privaten Sender legten oppositionellen Künstlern Steine in den Weg", so Demirel. Seitdem sei die Kunst- und Kulturszene in zwei Lager gespalten: Diejenigen, die für die Machthaber sind und diejenigen, die sie kritisieren. Wie die Wahlen im Juni ausgehen werden, vermag sie nicht zu sagen. Nur so viel: "Die Kulturszene erlebt derzeit eine schwere Prüfung."
Onur Orhan ist Schriftsteller. Er wurde 1975 geboren und auch er lebt in Istanbul. Er war ebenfalls bei den Protesten dabei, "dort, wo am meisten los war", sagt er. Im Anschluss schrieb er ein Einmann-Stück - "Nur Diktator": In seinem Arbeitszimmer bereitet sich der Diktator auf seinen Auftritt vor. Gleich wird er vor sein Volk treten, das sich versammelt hat, um ihn zu sehen. Jetzt wird sich entscheiden: Kann er sich behaupten oder wird sich sein Volk seiner entledigen? Anfang 2018 wurde das Stück, das in vielen Städten in der Türkei und in Europa aufgeführt wurde, von einem Tag auf den anderen verboten. Die Polizei umstellte das Theater. Sein Schauspieler, Barış Atay, der bei seiner Kritik an der Regierung und ihren Unterstützern auf Twitter kein Blatt vor den Mund nimmt, wurde Mitte Mai aufgrund eines Tweets festgenommen, aber kurz darauf wieder freigelassen.
Gezi veränderte das Land
Onur Orhan erinnert sich an den Sommer 2013: "Gezi hatte eine verändernde Wirkung. Man war nicht mehr dieselbe Person nachdem man diese Erfahrung mitgemacht und erlebt hatte. In diesem Sinne hat Gezi das Land verändert. Manche Ergebnisse sahen wir schon, andere werden sich noch später zeigen, einige werden erst unsere Kinder und Enkel erleben. Sicher aber ist: Es wird nicht so sein, als hätten wir es nicht erlebt."
Die vergangenen fünf Jahre hätten auch Künstler und Schriftsteller stark geprägt. "Sie haben sich daran erinnert, was Kunst ist", so Orhan. "Es war, als hätte man eine vage Vorstellung von Kunst mit der Klarheit des schönsten Moments einer Kindheitserinnerung wiedergefunden." Dadurch hätten sich den Künstlern viele Fragen gestellt. Die Wichtigste ist seiner Meinung nach: "Kann ich weiter schreiben wie bisher oder muss ich eine neue Sprache und Form finden?"
Und seine Erwartungen für die Wahlen? Von Hoffnung halte er nicht viel, sagt er. Das sei zu passiv. Aber Vorstellungskraft sollte man haben. "Wir müssen wie Fußballer auf die Spiele schauen, die vor uns liegen. Egal, ob wir gewinnen oder verlieren. Dann wird nicht die Kopie von etwas, sondern etwas Individuelles, etwas Einzigartiges uns seine Türen öffnen." Doch ein letztes Wort hat er noch: "Es ist immer gut, wenn die Macht, die in einer einzelnen Hand liegt, zerbrochen wird. Ich möchte, dass die Opposition gewinnt, wir sind das Volk!"