Das Trauma der Schutzlosigkeit
19. April 2022Gleich nach dem Aufwachen geht Wanda Traczyk-Stawska in ihr Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Jeden Morgen seit dem 24. Februar 2022. Als ob es ihre Pflicht wäre. Die 95-Jährige möchte wissen, ob die Ukrainerinnen und Ukrainer noch gegen die russischen Invasoren kämpfen. Sie will bei ihnen sein, wenn auch nur von ihrem Sofa aus.
Was Kämpfen heißt, weiß Traczyk-Stawska nur zu gut: Während des Warschauer Aufstands gegen die deutschen Besatzer 1944 war die damals 17-Jährige Soldatin der polnischen Untergrundarmee. Im Gespräch mit der DW versucht sie, sich Geräusche, Gerüche und Geschmäcke aus dieser schrecklichen Zeit zu vergegenwärtigen. Zeitweise schließt sie die Augen, spricht langsamer, als ob sie jedes Wort auskosten wolle.
"In den ersten Kriegstagen sah ich, wie die Deutschen einen Säugling erschossen", berichtet Wanda Traczyk-Stawska und senkt den Kopf. "Bis dahin hatte ich mir vorher nicht vorstellen können, dass es so böse Menschen geben kann." Ab diesem Tag habe sie erwachsen sein wollen, um kämpfen zu können.
"Ich hasse den Krieg, er ist die größte Dummheit der Menschheit", betont Traczyk-Stawska. Doch seit zwei Monaten ist sie wieder mit seinen Schrecken konfrontiert. "Lieber würde ich nicht mehr leben und das nicht durchmachen, aber wenn ich schon lebe, dann fühle ich mich verpflichtet zu kämpfen, und das kann ich nur durch einen Aufruf an die Welt tun: Helft der Ukraine!"
Der Himmel über der Ukraine
Traczyk-Stawska erinnert sich gut an das Gefühl, keine Unterstützung im Krieg gegen die Deutschen zu erhalten. Dass der Himmel über der Ukraine "offen" bleibt, sprich: keine Flugverbotszone beschlossen und durchgesetzt wird, erinnert sie an 1944. "Wir hatten damals gar keine Flugabwehr. Und mit einer Maschinenpistole kann man nun mal kein Flugzeug abschießen. Wir mussten also schutzlos zusehen, wie Bomben auf unsere Häuser geworfen wurden. Das ist unser größtes Trauma."
"Was zurzeit geschieht, stellt eine enorme Belastung für Menschen dar, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben", erklärt Agnieszka Popiel, Psychiaterin und Psychotherapeutin an der Warschauer Universität SWPS. Die Professorin, die gemeinsam mit einer Kollegin die Klinik für kognitive Verhaltenstherapie leitet, beschäftigt sich unter anderem mit Traumata. Ihre Hochschule hat eine Hotline für Menschen eingerichtet, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind - und sich trotzdem weiterhin bedroht fühlen, sich Sorgen um Verwandte machen oder den Verlust eines geliebten Menschen erlebt haben.
Träume von Ungeheuern
Stanislaw Walski hat im zweiten Weltkrieg Schlimmes erlebt. Er wurde 1933 geboren, dem Jahr, in dem in Deutschland Hitler an die Macht kam. "Der Angriff Russlands hat meine Psyche in kleine Stückchen zerrissen. Nach all den Grausamkeiten, die ich im Zweiten Weltkrieg erlebt habe, dachte ich mir: Das darf nie wieder geschehen. Aber leider gibt es wohl immer wieder kranke Menschen, die Krieg führen müssen", sagt er im Telefongespräch mit der DW.
Heute lebt der 88-jährige Walski in Breslau. Er hat an der Aktion "Nie wieder Krieg" des Geschichtszentrums "Zajezdnia" (Depot) teilgenommen. In kurzen Filmen verurteilen Menschen, die den Zweiter Weltkrieg erlebt haben, den Krieg in der Ukraine. In seinem Video berichtet Walski, wie er als 11-Jähriger in das Lager Neumarkt/Oberpfalz deportiert wurde. Jahrelang ließ ihn ein Albtraum nicht los: Er schwebt in der Luft und Ungeheuer versuchen, ihn an den Beinen zu packen.
"Ich denke, die Psyche des kleinen Jungen, der ich damals war, hat den Anblick der vielen Leichen nicht ertragen. Den Anblick von Menschen, die sich in einen Stacheldrahtzaun stürzen", erklärt Walski. Er erinnert sich an Geräusche, an Gerüche - und an den allgegenwärtigen Hunger. "Es war unerträglich. Wenn mir eine Fliege in den Hals flog, habe ich sie nicht rausgespuckt, sondern geschluckt."
Das Alter schärft die Erinnerung
Agnieszka Popiel weist darauf hin, dass ältere Menschen sich häufig viel intensiver an das erinnern, was sie in jungen Jahren erlebt haben, als an Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit. "Damals wurden die Erlebnisse stark in der Erinnerung verknüpft, in späteren Jahren, wenn die Kraft abnimmt, geschieht das immer weniger". Deshalb kehren Erinnerungen aus der Jugend verstärkt unmittelbar zurück.
Die Psychologin erklärt, wie Menschen unbewusst einen Schutzmechanismus aufbauen: Wer Schreckliches erlebt habe, speichere konkrete Reize wie Geräusche, Gerüche oder Bilder, um den Körper darauf vorzubereiten, sich in Zukunft in ähnlichen Situationen zu schützen.
"Die Deutschen sind zu zögerlich"
"Ich höre oft, dass wir eine außergewöhnliche Generation waren. Das stimmt nicht. Wir waren genauso wie die Menschen heute", meint Wanda Traczyk-Stawska. Im Gespräch mit der DW wiederholt sie mehrmals, dass sie ukrainischen Frauen rate, nicht in Polen zu bleiben, das zu einem Frontstaat geworden sei - sondern weiter in den Westen zu fliehen. "Ich weiß, dass diese Frauen an ihre Männer denken, die in der Ukraine kämpfen. Sie wollen nah bei ihnen sein. Doch das ist falsch! Für die Männer, die dort zurückgeblieben sind, ist es wichtig zu wissen, dass ihre Frauen und Kinder in Sicherheit sind."
Als ich mich für das Gespräch bedanke, sagt die Kämpferin aus dem Zweiten Weltkrieg, sie habe zu danken: für die Möglichkeit, direkt zu den Deutschen sprechen zu können. "Ich möchte, dass Deutschland nach Frieden in der Welt ringt. Es wird keinen Frieden geben, solange Krieg herrscht. Die Deutschen sind zu zögerlich."
Bevor sie mich zur Tür begleitet, sagt Wanda Traczyk-Stawska mit entschiedener Stimme: "Wenn ich nur etwas jünger wäre, würde ich jetzt mit den Ukrainern kämpfen." Die Menschen im Nachbarland dürften niemals aufgeben, betont die polnische Veteranin. Sie ist überzeugt, dass die Ukraine siegen wird: "Denn die Leute dort wissen, genauso wie ich, was Freiheit bedeutet und was Menschenwürde ist."