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Politik

"Wir haben Hunger!"

Adrian Kriesch
31. Oktober 2016

Mehr als eine halbe Million Kinder in Nigerias Nordosten hungern, warnen Hilfsorganisationen. Nigerias Präsident sagt jedoch, der schlimmste Teil der Boko-Haram-Krise sei vorbei. Wie passt das zusammen?

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Krankenpfleger Harun Abdullahi Adam mit einer Patientin (Foto: DW/A. Kriesch)
Bis zu 60 Patienten behandelt Harun Abdullahi Adam täglich in seiner mobilen KlinikBild: DW/A. Kriesch

Falumata Muhammed lächelt erleichtert, als der Krankenpfleger ihr endlich Tabletten in die Hand drückt. Seit Tagen ist ihre dreijährige Tochter Maryam erkältet, und als sie von einer mobilen Klink hörte, die kostenlos Kinder behandelt, konnte sie es kaum glauben. Falumata hat sich in den letzten Jahren daran gewöhnt, sich selbst durchzuschlagen.

Vor zwei Jahren ist sie mit ihren sechs Kindern aus ihrem Dorf Zankari im Nordosten Nigerias geflüchtet. Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram hatte bereits die Nachbardörfer eingenommen, es gab kaum noch genug zu Essen. Kinder in der Nachbarschaft starben - wegen Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung. Falumata flüchtete in den Ort Monguno - doch auch der wurde Anfang 2015 von Boko Haram kurzzeitig eingenommen. Nach drei Wochen Versteck im Busch konnte sie zurückkehren, die Armee nahm den Ort wieder ein. Früher lebten 60.000 Menschen in Monguno, jetzt sind 140.000 Vertriebene dazugekommen.

Ein Arzt für 200.000 Menschen

Bis Juni gab es nur einen einzigen Arzt in der Stadt, erst dann gestand sich die Regierung ein, dass sie diese Krise nicht allein bewältigen kann. Jetzt kämpfen Hilfsorganisationen gegen die humanitäre Katastrophe in Monguno. Täglich werden hunderte Kinder wegen akuter Unterernährung behandelt. Im nächsten Jahr könnten im Nordosten Nigerias bis zu 75.000 Kinder verhungern, warnt das Kinderhilfswerk UNICEF. Der Notfallplan der Vereinten Nationen ist erst zu 37 Prozent finanziert - allein 88 Millionen Dollar fehlen, um die Nahrungssicherheit in diesem Jahr sicherzustellen.Der Krankenpfleger Harun Abdullahi Adam ist seit drei Monaten in Monguno und für die Hilfsorganisation ALIMA mit einer mobilen Klinik in der Stadt unterwegs. 50 bis 60 Patienten behandelt er jeden Tag in einer improvisierten Open-Air-Klinik. Adam ist 25, hat gerade erst seine Ausbildung abgeschlossen. Jetzt sieht er täglich die verschiedensten Krankheiten - und immer wieder ausgehungerte Kinder. Auf seinem Plastiktisch stapeln sich Tüten mit kalorienreicher Sondernahrung für extrem unterernährte Kinder. "Wir sind ja auch nur Menschen", sagt Adam. "Es ist nicht einfach zu sehen, was einige hier durchmachen mussten". Adam ist auch der erste Krankenpfleger, den Maryam - die Tochter von Falumata Muhammed - jemals zu sehen bekommt. Er ist erleichtert, dass Maryam keine Tüte braucht. Langsam verbessere sich die Situation, so der Krankenpfleger. Mehrere Hilfsorganisationen versuchen jetzt die Grundversorgung sicherzustellen.

Falumata Muhammed (Foto: DW/A. Kriesch)
Falumata Muhammed trotzt Boko HaramBild: DW/A. Kriesch

"Wir haben Hunger!"

Madu Amsami sieht das anders. Er ist ein Sprecher der Flüchtlinge verschiedener Camps in Monguno. "Schau dir doch unsere Gesichter hier an", sagt Amsami. "Wir haben Hunger! So viele neue Leute kommen hier an - und für sie gibt es nicht genug zu essen." Einzig das Rote Kreuz kümmere sich um die Nahrungsmittelversorgung. "Die meisten Organisationen reden ständig über Latrinen, Latrinen, Latrinen", schimpft der ehemalige Lehrer. "Aber man muss doch erst einmal etwas essen, bevor man überhaupt auf die Toilette gehen kann. Ein hungriger Mann geht nicht auf die Toilette!"

Muhammadu Buhari (Foto: picture-alliance/AP Photo/M. Schreiber)
Präsident Muhammadu Buhari: Die Lage verbessert sichBild: picture-alliance/AP Photo/M. Schreiber

In der fernen Hauptstadt Abuja wird die Lage scheinbar anders eingeschätzt: "Der schlimmste Teil des Aufstandes liegt hinter uns", sagte Nigerias Präsident Muhammadu Buhari vergangene Woche als er ein Komitee für die Entwicklung des Nordostens Nigerias einsetzte. Es soll in den kommenden drei Jahren für Normalität und Stabilität sorgen - und ein Plan zur Entwicklung der Region erstellen. "Viele Vertriebene sind bereit, nach Hause zurückzukehren und nach vorne zu schauen", so der Präsident.

Gefährliche Militärstrategie: Aushungern

Falumata Muhammed kann über die Politik nur den Kopf schütteln. Noch nie habe sie irgendeine Unterstützung vom Staat bekommen, sagt sie und streicht über das Gesicht ihrer weinenden Tochter, damit die Fliegen verschwinden. Das Gebiet um Monguno gilt noch immer als umkämpft. Nigerias Armee konnte zwar die meisten besetzten Gebiete zurückgewinnen, doch immer wieder kommt es zu Angriffen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass zwei Millionen Menschen noch immer abgeschieden von der Außenwelt sind, ohne jeglichen Zugang zu Hilfe. Nigerias Militär versucht unterdessen den Islamisten, die sich noch immer um die dünn besiedelte Region um den Tschad-See verschanzen, die Nahrungsmittelzufuhr abzuschneiden - und diese ihrerseits auszuhungern. Das könnte die Lage der abgeschiedenen Zivilbevölkerung zusätzlich verschärfen.

Maryam mit Fliegen im Gesicht (Foto: DW/A. Kriesch)
Der erste Arztbesuch im Leben der dreijährigen MaryamBild: DW/A. Kriesch

Muhammed macht deshalb das, was sie schon immer tat: sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand. Einmal in der Woche schleicht sie sich in die Nähe ihres Dorfes, um ihr Feld zu bestellen. Um fünf Uhr morgens hin, in der Nacht zurück. "Na klar ist das gefährlich, und ich habe riesige Angst", sagt die Mutter. "Aber was habe ich denn für eine Wahl - mein Feld ist alles was ich habe, und ich will meine Familie ernähren."