"Konfliktscheu und harmoniesüchtig"
23. April 2018Schloss Neuhardenberg, 90 Kilometer östlich von Berlin. Die anmutigen weißen Gemäuer aus dem 18. Jahrhundert liegen in einer grünen Parkanlage. Zwei deutsche intellektuelle Größen treffen hier aufeinander. Gemeinsam mit dem ehemaligen Diplomaten und Autor Manfred Osten verhandelt der Jurist und renommierte Autor Bernhard Schlink die großen Themen, die die Gesellschaft in Deutschland vermehrt umtreiben: Wie definiert sich Identität? Was ist Leitkultur und was Alltagskultur? Was kann die deutsche Gesellschaft von Einwanderern erwarten? Und was muss sie selber leisten?
Erfolgsautor Schlink, der nach seiner Trilogie um den Privatdetektiv Selb durch seinen ebenfalls verfilmten Roman "Der Vorleser" auch international bekannt wurde und dessen jüngster Roman "Olga" in diesem Jahr veröffentlich wurde, hat sich in verschiedenen Essays immer wieder diesen Fragen gewidmet. Und auch der Gesprächsabend öffnete mit der häufig gestellten Frage: Hat sich die deutsche Gesellschaft von ihren Werten entfernt? Um diese zu beantworten, unterscheidet Schlink zwischen dem Begriff der "Leitkultur", den Friedrich März 2000 in den politischen Diskurs eingeführt hatte, und dem Begriff der "Alltagskultur".
Wieviel leisten wir von dem, was wir von anderen erwarten?
"Wir können von denen, die zu uns kommen, nicht erwarten, dass sie unsere Verfassungsidentität zu Ihrer machen", so Schlink. "Alltagskultur dagegen ist weniger und etwas Handfestes. Es wird in der Schule beigebracht und durch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gesichert." Konkret meint er damit zum Beispiel: Versprechen sind zu halten oder Auseinandersetzungen geschehen gewaltfrei.
Schlink geht noch einen Schritt weiter. Alltagskultur beinhalte auch die Erwartung, dass das Gegenüber verstehe, welche Bedeutung die eigenen Traditionen, Geschichte und Kultur für Deutsche haben. Das wirft das erste Problem an diesem Abend auf: Wieviel wissen Schüler und Studierende in Deutschland heute, nachdem lange Zeit Auswendiglernen als autoritär und repressiv galt und das Gedächtnis in digitale Speicher delegiert wird, tatsächlich über die Geschichte Deutschlands? Anders: Wieviel leisten wir von dem, was wir von anderen erwarten?
Was ist akzeptabel - und was nicht?
Doch das Problem geht tiefer. Die Ängste von Teilen der deutschen Gesellschaft vor Überfremdung sitzen tief. Die Liste der Dinge, die viele als Bedrohung ihrer Identität empfinden, ist lang. Manfred Osten liest sie vor: "Minarette, kopftuchtragende Frauen, Übernahme des Stadtparks durch grillende türkische Familien, libanesische Clans, die über Drogenhandel und Prostitution gebieten…" Was kann die deutsche Gesellschaft tun? Schlinks Antwort darauf: Sie muss differenzieren und sich fragen: Womit müssen wir leben und womit nicht? Und sich dann positionieren.
Ein Beispiel: Dass etwa der Deutschunterricht mit Kindern mit 90 Prozent Migrationshintergrund schwieriger ist, ist akzeptabel. Zwangsheirat dagegen nicht. Schlink betont, er verstehe die Sorgen und die Bekümmertheit vieler Menschen. Manches aber müsse man akzeptieren und darauf hoffen, dass sich alles mit der Zeit gesellschaftlich zusammenfügt.
Unsicherheit an vielen Schulen
An einer deutlichen Positionierung fehlt es nach Schlink auch in den Schulen. Sie sind für ihn - neben der Polizei - einer der beiden Stützpfeiler der Identität in Deutschland. Allerdings erlebe man derzeit sowohl an Schulen als auch bei der Polizei ein Debakel, verursacht durch eine vorangegangene "Mischung aus Sparfreudigkeit und Gleichgültigkeit". Lehrerinnen und Lehrer würden häufig alleingelassen, etwa wenn es darum geht, dass Eltern ihre Kinder nicht zum Schwimm- oder Biologieunterricht schicken wollen. Warum fällt es vielen Schulen schwer, deutlich zu ihren Prinzipien zu stehen? Für Schlink liegt die Ursache im Erbe des Dritten Reichs und der Beschäftigung damit. Um nicht in den Verdacht zu geraten, "antisemitisch" durch "antimuslimisch" zu ersetzen und die "Zucht und Ordnung" von einst wieder etablieren zu wollen, falle es noch immer schwer, das richtige Verhältnis zu finden. Viele Schulen würden daher viele Probleme unter den Teppich kehren. Deutsche, sagt er, seien eher konfliktscheu und harmoniebedürftig.
Heimat - ein Sehnsuchtsort
Als letzten Punkt an diesem Abend geht Schlink auf den in Verruf geratenen umstrittenen und seit neuestem unter anderem durch das "Heimatministerium" wiederbelebten Begriff "Heimat" ein. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Regresses in nationalstaatliche Tendenzen in Europa, aber auch in den USA, betont Schlink seine Vorstellung von Heimat als Utopie: Ein Sehnsuchtsort der Kindheit, zu dem es kein Zurück gibt. Einzelne Elemente dieser Heimat, wie etwa die Sprache, so Schlink, seien nicht gefährdet, auch wenn sich die Gesellschaft um einen herum verändert.
Manfred Osten und Bernhard Schlink reißen an dem Abend viele Aspekte um das Thema Identität an. An der Reaktion des Publikums wird deutlich: Auch auf deutsch-deutscher Ebene wirft das Thema noch viele Fragen auf. Diskussionen wirft Schlinks These auf, die "muslimische Tradition des Antisemitismus" stelle ein größeres Problem dar als der rechtsextremistische Antisemitismus. Sollte man nicht erst einmal selbst die Kodizes befolgen, die man von anderen verlangt, fragt ein Gast und bekommt starken Gegenwird. Zu Meinungsverschiedenheiten kommt es auch, als Schlink versucht, eine Sensibilität für Entwicklungen innerhalb des Islams zu erreichen, indem er Parallelen zu den Entwicklungen innerhalb der beiden christlichen Kirchen zieht. Das geht dem ein oder anderen Gast dann doch zu weit.
Manfred Osten gelingt es schließlich, den Abend mit einem Zitat von Schinkel versöhnlich zu beenden: "Der Ort der Geburt und der Ort der Kindheit – sie werden die Orte bleiben, mit denen sich Heimatgefühl, Heimaterinnerung und Heimatsehnsucht vor allem verbinden."