"Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag"
13. November 2020In der neuen Enzyklika 'Fratelli Tutti' von Papst Franziskus soll die Menschlichkeit in einer neuen Weltordnung im Mittelpunkt stehen: er prangert den Egoismus in der modernen Wirtschaft an. Das Modeunternehmen von Italiens Kaschmir-König Brunello Cucinelli ist der Beweis, dass solidarischer, nachhaltiger Kapitalismus funktionieren kann. Brunello Cucinelli gehört laut Forbes zu den 30 reichsten Italienern. Wir haben uns mit dem 'humanistischen Unternehmer' unterhalten und ihn gefragt, wie er sich den Kapitalismus der Zukunft vorstellt.
Herr Cucinelli, Papst Franziskus warnt in seiner neuen Enzyklika - Fratelli Tutti - vor Egoismus in der Wirtschaft, der weiterhin Chaos in der Welt anrichte. Ihr ‘humanistischer Unternehmensstil', wie Sie ihn nennen, ist eine Art praktische Umsetzung von Franziskus' Forderungen. Wodurch zeichnet sich Ihr Unternehmen aus?
Brunello Cucinelli: Mein humanistischer Unternehmensstil bedeutet gerechte Gewinne zu erzielen. In der ganzen Lieferkette muss ein gerechter Gewinn erzielt werden. Diejenigen, die die Kaschmir-Ziegen großziehen, sollen unter humanen Bedingungen arbeiten - mit anständigen Arbeitsplätzen und einem anständigen Lohn. Wir treffen uns mit den Lieferanten persönlich und unter freundlichen Umständen. Wenn der Lieferant an dem Handel verdient, verdient auch der Arbeiter, die Industrie verdient und der Ziegenbauer verdient daran.
Alles basiert auf der Achtung der moralischen und wirtschaftlichen Würde eines jeden Menschen in dieser Wertschöpfungskette. Der Respekt des Menschen ist zentral in meiner Unternehmensphilosophie. Gewinne, die mein Unternehmen erzielt, müssen nachhaltig sein - nicht nur nachhaltig, sondern auch gesund und ausgeglichen, ohne der Menschheit Schaden zuzufügen. Dahinter steht die Idee, dass wir alle Brüder sind.
'Fratelli tutti' - wie der Papst es in seiner Enzyklika formuliert. Sie werden auch franziskanischer Unternehmer genannt? Warum?
Ich denke, vor allem, weil ich in meinem Unternehmen versuche, menschliche Beziehungen nach der Idee des heiligen Franz von Assisi aufzubauen. Er behandelte alle seine Brüder gleich - egal ob reich oder arm. Um 1220 traf Franz von Assisi den Sultan Al Kamil und sie wurden Freunde. Franz von Assisi war ein Genie zwischenmenschlicher Beziehungen. Davon können wir lernen, denn wir müssen heute die menschlichen Beziehungen neu entdecken. Ich komme aus der italienischen Region Umbrien. Dadurch bin ich in einer stark franziskanisch und benediktinisch geprägten Kultur aufgewachsen. [Sowohl der Heilige Franz von Assisi, nachdem auch Papst Franziskus sich benannt hat, als auch der Heilige Benedikt von Nursia lebten in Umbrien.]
Im ersten Teil meines Lebens, bis ich 15 Jahre alt war, lebte ich auf dem Land. Wir waren Bauern. Wir haben das Land mit Tieren bestellt und hatten kein elektrisches Licht. Es war eine völlig andere Lebensatmosphäre. Ich erzähle von diesem ersten prägenden Teil meines Lebens, weil er grundlegend für meine persönliche Entwicklung war. In dieser Zeit habe ich gelernt, in Harmonie mit der Schöpfung zu leben. Alles war erlaubt, solange es im Einklang mit der Schöpfung getan wurde. Wir haben das Land ohne Pestizide bearbeitet. Wir haben Regenwasser gewonnen. Wir waren aufeinander angewiesen. Die Lämmer, die wir zum Leben brauchten, haben wir beim Namen genannt. Wir pflegten eine gesunde Beziehung zur Natur, die ich heute als Leben in Harmonie mit der Schöpfung bezeichne. Und wenn wir heute über Nachhaltigkeit reden, dann ist das für mich das Leben in Harmonie mit der Schöpfung.
Wie kann eine gerechtere Form des Kapitalismus, die Franziskus fordert, funktionieren?
Wir müssen eine neue gerechte Form des Unternehmertums und des Zusammenlebens finden. Jeder einzelne. Wir brauchen eine prophetische Vision, die für alle gilt. Papst Franziskus redet über die großen Themen der Menschheit. Er hat eine großartige Vision für die Welt. Ich träume selbst von einer neuen Form des Kapitalismus - einem universellen Humanismus. Von Perikles, Sokrates, Platon und Aristoteles über die großen englischen Philosophen bis zum Franzosen Jean-Jacques Rousseau versuchten alle, einen universell gültigen Gesellschaftsvertrag zu formulieren. Der muss heute weitergedacht werden.
Ich glaube, dass die Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag gekommen ist. Wir müssen einen neuen Gesellschaftsvertrag mit der Schöpfung abschließen. Es ist das erste Mal, dass ich das in einem Interview sage. Darin muss alles ‘Geschöpfte' berücksichtigt werden - belebte und unbelebte Dinge. Es soll nicht mehr nur ein Gesellschaftsvertrag zwischen den Menschen sein, sondern zwischen der Natur und den Menschen.
Wie verstehen Sie den solidarischen Kapitalismus, den Papst Franziskus fordert?
Jeder Mensch ist auf Profite angewiesen. Auch mein Unternehmen muss Gewinne machen, aber es muss sie unter Achtung der Menschenwürde und moralisch vertretbar machen. Wir möchten Gewinne erzielen, ohne der Menschheit zu schaden - oder zumindest so wenig wie möglich. Deshalb müssen wir auch etwas an die Gemeinschaft zurückgeben.
Das ist ein weiteres Konzept, das ich als Bauernjunge gelernt habe: Den ersten geernteten Weizenballen hat mein Großvater für die Gemeinde bestimmt. Er wurde der Kirche gegeben, die ihn an die Gemeinde verteilte. Der erste Ballen war das einzige, was wir geben konnten.
Für mich war das eine große Lehre: das große Gleichgewicht zwischen Profit und Gabe an die Gemeinschaft.
Wie stellen Sie sicher, dass die mongolischen Ziegen, von denen Sie die Kaschmirwolle gewinnen, ethisch korrekt gehalten werden und dass die Arbeiter in den mongolischen Betrieben gerecht bezahlt werden?
Wir wissen ja, bei wem wir in der Mongolei einkaufen. Einmal im Jahr fahren wir dorthin und suchen uns geeignete Betriebe aus. Man muss natürlich kontrollieren und selbst nachsehen! Man muss die Lieferanten bitten, sich vor allem auch während dieser Pandemie gut zu verhalten. In schwierigen Zeiten versuchen wir sie zu unterstützen. Die Winter dort sind manchmal 48 Grad unter Null kalt. Natürlich können wir nicht alles zu 100 Prozent sehen, aber seit 30 Jahren haben wir dieselben Lieferanten, mit denen wir versucht haben, ein gesundes und ausgewogenes Verhältnis aufzubauen - wirtschaftlich und menschlich.
In seiner Enzyklika warnt Papst Franziskus auch vor Finanzspekulationen. Auch Ihr Unternehmen ist an der Börse notiert. Gibt es einen Konflikt mit Ihrem humanistischen Geschäftsstil?
In meiner Jugend habe ich erlebt, wie mein Vater auf seiner Arbeit gedemütigt wurde. Ich hörte ihn mit Tränen in den Augen sagen: "Was habe ich Gott bloß angetan, um so gedemütigt zu werden?” Das hat mir gereicht. Ich habe mir seitdem geschworen, als Unternehmer immer das Gegenteil tun. Mein Unternehmen macht normale Gewinne und ja, wir sind an der Börse notiert. Es ist also auch nicht so, dass wir ein einfaches, privates Unternehmen sind. Das zeigt, dass es eine börsennotierte Firma geben kann, die gesunde Gewinne unter der Wahrung der Menschenwürde macht.
Vor drei Jahren hat mir das berühmte Kieler Institut für Weltwirtschaft einen wichtigen Preis verliehen und mich als ehrenwerten Geschäftsmann ausgezeichnet. Damit wurde ich für meinen humanistischen Unternehmensstil geehrt. Auch dieses Jahr in der Pandemie hat sich mein Unternehmensstil behauptet. Seit März haben wir niemanden entlassen, wir haben jedem das gleiche Gehalt wie vorher bezahlt und garantieren es weiter.
Die überschüssigen Waren aus den Läden der letzten sechs Monate [im Wert von 30 Millionen Euro] haben wir an bedürftige Menschen in aller Welt geschickt. Unser Unternehmen, das seit 41 Jahren existiert, ist jetzt erst seit zehn Jahren an der Börse. Ich glaube nicht, dass mit unserem Unternehmen stark spekuliert wurde. Wir haben immer gerechte Gewinne erzielt. Dieses Jahr werden wir etwas weniger machen. Die Corona-Pandemie wird aber vorübergehen. Sie ist nicht so fatal wie die Finanzkrise von 2008.
Im Frühling, zu Beginn der Corona-Pandemie, haben Sie einen Brief geschrieben - 'Lettera di Primavera'- in dem Sie das Verschwinden der Schwalben befürchten. Er erinnerte mich ein wenig an das "Verschwinden der Glühwürmchen” von Pier Paolo Pasolini. Die Welt verändert sich grundlegend, schrieb er in den 1970ern. Denken Sie das auch?
Oh ja! Mit dieser Pandemie hat uns die Welt um Hilfe gebeten. Ich als Großvater von drei kleinen Kindern, stelle mir gerne vor, wie die Welt in 50 Jahren, in 70 Jahren aussehen wird. Ich möchte ein kleiner Bewahrer sein, der die Zukunft mit entwirft. Ich sitze hier gerade in Solomeo in einem Turm aus dem 13. Jahrhundert. Stellen Sie sich vor, wie viele Menschen hier einmal gelebt haben. Jemand hat dieses Dorf hier aufgebaut, dann restauriert, dann kamen wir und haben es auch restauriert. Auch nach uns wird jemand kommen.
Es ist so: Wir sind entweder Wächter oder Eigentümer dessen, was wir haben. Ich möchte ein Wächter sein, ein kleiner Behüter der Menschheit. Das habe ich auch an meinen Freund Jeff Bezos herangetragen und ihm gesagt: Wenn ich in fünf Jahren nach Seattle komme, möchte ich etwas Besonderes sehen - etwas das für diejenigen geschaffen werden soll, die nach uns kommen!
Zum Weiterlesen: Der Frühjahrsbrief von Brunello Cucinelli auf Instagram
Das Interview führte Kevin Tschierse und übersetzte es aus dem Italienischen.
Brunello Cucinelli ist ein italienischer Modedesigner, Unternehmer und Philanthrop. Er gründete 1978 die Aktiengesellschaft Brunello Cucinelli S.p.A., deren Vorstandsvorsitzender er bis heute ist. Das Unternehmen ist seit 2012 an der Mailänder Börse notiert.