Winnetou, mein Held: Zum Tod von Pierre Brice
6. Juni 2015Wenn im Film "Winnetou III" Old Shatterhand den Kopf seines sterbenden Blutsbruders im Schoß hielt und zu Geigenklängen die gemeinsamen Erlebnisse eingeblendet wurden, flossen literweise Tränen. Auch meine. Denn Winnetou war der Held meiner Kindheit. Und Pierre Brice sein Gesicht.
Im Jahr 1962 stand Pierre Brice in "Der Schatz im Silbersee" zum ersten Mal als Winnetou vor der Kamera. Der Film basierte auf einem der Werke des deutschen Schriftstellers Karl May, die ab 1897 erschienen waren und von den Abenteuern der Blutsbrüder Winnetou und Old Shatterhand im US-amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts erzählten. Die Geschichten um den deutschen "Westmann" und den edlen Apachen-Häuptling hatten schon Generationen junger Deutscher begeistert. Die Verfilmung des "Schatz im Silbersee" mit der grandiosen Filmmusik von Martin Böttcher läutete in den 60er Jahren eine Karl-May-Filmwelle ein, die Pierre Brice europaweit bekannt machte.
Dass Winnetou die Rolle seines Lebens werden würde, konnte er damals noch nicht ahnen. Von Karl May hatte Brice bis dahin nie gehört und erst wollte er auch lieber die Rolle des Old Shatterhand übernehmen. Seine damalige Freundin und seine Agentin überzeugten ihn, den Winnetou zu spielen. Gedreht wurde nicht an Originalschauplätzen in den USA (dafür reichte das Geld nicht), sondern in den malerischen Landschaften Jugoslawiens, zwischen weißen Kalkfelsen, grünen Wiesen und wilden Wasserfällen. Von den Amerikanern Lex Barker (in der Rolle des Old Shatterhand) und Steward Granger (als Old Surehand) abgesehen, kamen die meisten Schauspieler aus Europa, auch viele deutsche Schauspieler wie Uschi Glas und Mario Adorf waren dabei. Die zahlreichen Indianer wurden von Statisten aus den umliegenden Orten verkörpert.
Einsatz für die Résistance
Geboren wurde Winnetou-Darsteller Pierre Brice am 6. Februar 1929 unter dem Namen Pierre Louis de Bris in Brest in der französischen Bretagne. Sein Vater, ein Marineoffizier, kämpfte während des Zweiten Weltkrieges als Mitglied der Résistance gegen die deutschen Besatzer und auch Pierre übernahm als Jugendlicher Botengänge für die Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Nach Kriegsende ging er, der Familientradition folgend, auf die Marineakademie und wurde in Algerien zum Kampftaucher und Fallschirmspringer ausgebildet. Bis 1951 kämpfte er im Indochina-Krieg in Vietnam und erhielt mehrere Tapferkeitsmedaillen. Nebenbei organisierte er für die Soldaten eine Frontbühne. Nach dem Krieg kehrte er der Marine den Rücken und machte in Paris eine Schauspielausbildung. In den 50er Jahren trat der gutaussehende Jungschauspieler in anspruchsvollen Theater-Rollen von Tschechow und Tolstoi auf, jobbte als Tänzer und Model und sogar als Schreibmaschinen-Vertreter. Der große Erfolg kam erst mit der Rolle des Winnetou.
Edler Indianer und Mädchenschwarm
Die Geschichten rund um den edlen und mutigen Indianerhäuptling Winnetou hatte Karl May frei erfunden. Als er sie schrieb, war der selbsternannte "Reiseschriftsteller" zeitweise im Gefängnis, die USA hatte er noch nie mit eigenen Augen gesehen. Die Romane boten ein wenig differenziertes und verzerrtes Bild des "Wilden Westens". Das wusste ich als Kind nicht, aber es hätte mich auch nicht gestört, ich verschlang die Bücher begeistert. Denn in einer komplizierten modernen Welt zwischen den vielen Ge- und Verboten der Erwachsenen boten sie vor allem eins: Orientierung, was gut und was böse ist. Der edle Indianerhäuptling war mein Held, weil er den Guten half und die Bösen strafte. Pierre Brice drückte es in einem Interview 2012 ähnlich aus: "Mir hat gefallen, dass Karl May versucht hat, Werte zu vermitteln. Winnetou hat für Friede, Freiheit, Respekt und Menschenrechte gekämpft – wie ich auch."
Deshalb mimte ich am liebsten Winnetou, wenn wir nachmittags nach der Schule in den Feldern Cowboy- und Indianer spielten. Mit seiner Figur konnten sich Jungen wie Mädchen identifizieren. Wenn im deutschen Fernsehen die Filme wiederholt wurden (und das wurden sie oft), bettelte ich darum, sie mit meiner besten Freundin (sie spielte Old Shatterhand) sehen zu dürfen, meine Eltern hielten einige der Filme für zu brutal. Sie wussten ja nicht, wie oft (und wie brutal) wir uns im Spiel draußen schon erstochen, erschlagen und erschossen hatten… Wichtig war nur: Die Guten mussten am Ende siegen. An der Wand meines Kinderzimmers hing ein Pierre Brice-Starschnitt aus der Jugendzeitschrift Bravo, die den androgyn-schönen Franzosen ihn immer wieder auf die Titelseite nahm – ein perfektes Objekt pubertärer Schwärmerei.
Für immer Apache
Mit keiner anderen Rolle hatte Pierre Brice je wieder ähnlichen Erfolg wie mit der des Winnetou. Die Rolle des Indianerhäuptlings holte ihn immer wieder ein: In einer deutschen Fernsehserie in den 80er Jahren spielte er Winnetou, genauso wie bei den Karl-May-Festspielen auf den Freilichtbühnen in Elspe und Bad Segeberg, wo er später auch Regie führte, als er zu alt für die Rolle geworden war. Als Kind träumte ich davon, Pierre Brice einmal live auf der Bühne zu erleben. Zum 40. Geburtstag schenkte mir mein Mann Karten für die Festspiele - zu spät. Pierre Brice war da schon längst nicht mehr dabei.
Am Ende seines Lebens haderte er auch nicht mehr mit der Fixierung auf die Rolle, wie er in einem Interview mit dem Tagesspiegel 2012 erzählte: "Jeder Schauspieler wünscht sich, Erfolg zu haben – und mit Winnetou hatte ich enormen Erfolg… Winnetou hat mir einiges ermöglicht. Den Pierre-Brice-Hilfskonvoi 1995 zum Beispiel. Nur weil die Menschen Winnetou vertrauten, konnte ich zwei Millionen Mark Spenden sammeln, um Menschen, besonders Kindern, im Kriegsgebiet in Ex-Jugoslawien zu helfen."
Am Samstag, den 06.06.2015 ist Pierre Brice, der mit einer Deutschen verheiratet war, in einem Krankenhaus in Paris gestorben. In einem Interview erzählte er einmal, dass seine Lieblingsszene aus den Winnetou-Filmen die Sterbeszene gewesen sei, sie lässt ein erfülltes Leben Revue passieren. Wie Winnetou wird auch sein Darsteller Pierre Brice in den Herzen vieler Menschen weiter leben. Auch in meinem: in dem Teil, der Kind geblieben ist.