Brandt Einheit
13. Dezember 2012Es gibt sie, diese bedeutungsschweren Berliner Sätze. Sie haben sich buchstäblich in den Geschichtsbüchern verewigt. "Ihr Völker der Welt", rief einst Ernst Reuter seinen Berlinern zu, "schaut auf diese Stadt". Ein Hilferuf des Nachkriegs-Bürgermeisters der zerstörten Stadt an die Siegermächte. Vor allem die Amerikaner schauten auf diese Stadt, die dann in den 60er Jahren dennoch in zwei Hälften zerfiel. US-Präsident John F. Kennedy brachte seine und die Solidarität der USA auf den wohl kürzesten Freundschaftsbeweis: "Ich bin ein Berliner!", rief er der Bevölkerung bei seinem Berlin-Besuch 1963 zu. Willy Brandt hörte das gerne. Er war der regierende Bürgermeister zu dieser Zeit und Gastgeber des hohen Besuches aus Washington. Derselbe Willy Brandt sprach dann 1989, dem historischen deutschen Jahr etwas aus, was in seiner Wirkung und Bedeutung erst langsam die Zeitgenossen ergriff.
Berlin, ein historischer Ort
"Es wächst zusammen, was zusammen gehört", hatte Brandt, der populäre Alt-Kanzler der 70er Jahre, den Mauerfall vom 9. November 1989 kommentiert. Kurz, einfach und doch so beruhigend logisch im emotional aufgewühlten deutschen Herbst 1989. Dabei hatte der Satz bei Weitem nicht die elektrisierende Kraft von Kennedys "Ich bin ein Berliner". Doch er gab Orientierung. Noch hatte die Mauer nur Risse, die Zukunft des kleineren der beiden deutschen Staaten war völlig offen. Von Reform-Sozialismus war die Rede, andere philosophierten über eine Konföderation, sogar die Konstruktion eines Deutschen Bundes wurde erwogen. Doch Brandt sprach vom großen Ganzen ohne dabei zu drängen. Die Einheit sollte organisch wachsen.
Was bis heute nur wenige wissen: Der berühmte Ausspruch "es wächst zusammen, was zusammen gehört" ist Brandt am Tag nach der Maueröffnung (10. November) bei der großen Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus gar nicht über die Lippen gekommen. Unter Tränen und "Willy-Willy"-Rufen hatte der Altkanzler und SPD-Ehrenvorsitzende zu den Berlinern gesprochen und vom Zusammenwachsen Europas, nicht Deutschlands gesprochen. Es waren Historiker, die erst später, als der Ausspruch längst zur parteiübergreifenden Sprachformel während des Einheitsprozesses aufgestiegen war, dem Zitat auf den Grund gingen.
Dabei kam Erstaunliches heraus. Im Mitschnitt der Rede Brandts vom Balkon des Rathauses, wo er zusammen mit Kanzler Kohl und Außenminister Genscher stand, fehlen die berühmten Worte. Selbst in seinen "Erinnerungen" hat Brandt den Satz nicht erwähnt. Tatsächlich ist der Wortlaut der historischen Aussage in zwei Zeitungsinterviews nachzulesen. Interviews, die vor oder nach der Rede im kleinen Kreis zwischen Tür und Angel geführt wurden. Furore machte der Ausspruch erst mit Verspätung. Sogar die Zeitungen, die Brandt um seinen Auftritt auf dem Rathausbalkon am 10. November befragt hatten, entging die Wirkkraft des Satzes. Sie wählten andere Überschriften, allgemeinere.
Richtig populär wurde das Zitat erst durch eine Wandzeitung der SPD. Brands Partei ließ die Worte ihres Ex-Kanzlers Ende November für die Infokästen der Ortsvereine in einer Stückzahl von 6000 Exemplaren drucken. Endgültig geadelt wurde das Brandtsche Bonmot auf dem Parteitag der Sozialdemokraten im Dezember in Berlin. An der Stirnseite des Saales prangten die Worte in großen Lettern. Sie waren das Motto des Parteitages.
Brandt als Visionär
Willy Brandt war zeitlebens ein begnadeter Redner. "Ich habe das Reden nicht gelernt, ich hab' es gekonnt", gab er einmal selbstbewusst Auskunft über seine rhetorischen Fähigkeiten. Und so wundert es auch nicht, dass die historischen Worte zum Mauerfall schon viel früher Eingang in Brandts Reden gefunden hatten. Es war 1958 als der damalige Regierende Bürgermeister Brandt bei der Einweihung eines neuen U-Bahn-Teilstückes in West-Berlin die Worte wählte, "dass eines Tages zusammengefügt sein wird, was zusammengehört." Und auch sechs Jahre später benutzte er anlässlich des dritten Jahrestages des Mauerbaus eine ähnlich klingende Formulierung. "Deutschland muss vereinigt werden, damit zusammengefügt wird, was zusammengehört." Eine nicht ganz unwichtige Entdeckung, denn der SPD und auch ihm wurde lange von Seiten des politischen Gegners vorgehalten, die Zweistaatlichkeit als unumstößliche Realität akzeptiert zu haben. Immerhin hatte Brandt in seinen Lebenserinnerungen davon gesprochen, dass die Wiedervereinigung wohl eine Lebenslüge sei - auch wenn er ein vielleicht vor das Wort Lebenslüge gesetzt hatte.
Brandt und Kohl - Verwandte im deutschlandpolitischen Geiste
Willy Brandt erlebte den Fall der Mauer als politischer Pensionär. Als dann das Undenkbare geschah war die SPD froh, ihn als deutschlandpolitische Autorität in ihren Reihen zu wissen. Viele Sozialdemokraten - auch zahlreiche Prominente - taten sich schwer mit der friedlichen Revolution in der DDR. Einflussreiche Kreise der Partei wollten die DDR reformieren und damit letztlich als zweiten deutschen Staat erhalten. Brandt war in der Deutschland-Frage klarer. Seine Formulierung berührte die Menschen, da sie die Unnatürlichkeit der Trennung ausdrückte. In der Art, wie er seine Worte setzte, schwang auch Geduld und Demut mit. Interessanterweise zollten ihm in den geschichtlichen Wochen und Monaten die früheren politischen Gegner genauso viel Anerkennung für seine Rolle im deutschen Herbst, als die eigenen Parteifreunde. Man kann es auf den Punkt bringen: Obwohl politisch und von der Lebensgeschichte kaum unterschiedlicher, waren sich Helmut Kohl, der Kanzler und Willy Brandt nie näher als zu dieser Zeit.