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Will die EU ein Auge zudrücken?

Barbara Wesel, Brüssel4. Mai 2016

Die EU-Kommission will die Visa-Liberalisierung empfehlen, obwohl die Türkei nicht alle Bedingungen erfüllt. Brüssel steht wegen der Flüchtlingskrise unter Druck. Aber der Optimismus der Anfangsjahre ist verflogen.

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Brüssel Jean-Claude Juncker Treffen mit türkischem Präsidenten Tayyip Erdogan
Bild: Reuters/F. Lenoir

Es scheint eine typisch europäische Lösung und sie erinnert an das legendäre Radio Eriwan. Die Antwort der EU-Kommission zur Visa-Freiheit für die Türkei heißt: Im Prinzip ja, aber… Weil sie nicht guten Gewissens behaupten kann, Ankara hätte tatsächlich alle 72 Bedingen erfüllt, bekommt die türkische Regierung wohl heute noch einmal eine Frist zum Nachbessern. Über 60 Kriterien seien inzwischen erfüllt, hatte die Behörde zuletzt mitgeteilt.

Gestern wurde schließlich der jüngste Beschluss gelobt, nun auch Bürger aus Zypern ohne Visum in die Türkei einreisen zu lassen. Damit war ein besonders heikler Punkt abgeräumt. Denn reziprok muss das Recht zumindest sein - wenn Millionen Türken künftig Visa-frei nach Europa dürfen, gilt das auch umgekehrt für alle EU-Bürger.

Es werden blinde Flecken bleiben

Allerdings scheint erkennbar, dass einige Voraussetzungen vorläufig sowieso nicht erfüllt werden. Beim Datenschutz, der Korruptionsbekämpfung, bei der Definition von Terrorismus, der Anwendung der Europäischen Menschenrechtscharta und der Justiz-Zusammenarbeit gibt es hartnäckige blinde Flecken. Kommissionsvize Frans Timmermans hatte vor dem kritischen Europaparlament in der vorigen Woche erklärt: "Wir werden nicht an den Kriterien herum drehen. Die Beweislast liegt bei der Türkei."

Aber es ist alles eine Frage der Auslegung. Denn einer kannte wohl schon vor einem halben Jahr das Ergebnis, über das jetzt gestritten wird: "Es ist nicht wirklich schlau, das vor dem Treffen zu sagen, aber ich bin sehr dafür, die Visa-Frage voranzubringen", hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits vor dem ersten Treffen mit Präsident Recep Tayyip Erdogan im Oktober in Brüssel erklärt.

Griechenland Reaktion der Flüchtlinge auf die geplante Rückführung
"Besser hier sterben, als zurück in die Türkei" - Flüchtlinge auf Lesbos gegen die AbschiebungBild: imago/ZUMA Press

Fehlentwicklungen kritisieren

"Wir können über die internen Entwicklungen in der Türkei nicht hinwegsehen. Die Türkei muss stabiler und demokratischer werden, um für uns ein strategischer Partner zu sein." Das Urteil der niederländischen Abgeordneten Kati Piri nach der Sitzung des Innenausschusses im EP war deutlich. Und vor allem: Die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen solle "vom Fortschritt der Reformen abhängen, und nicht von einem politischen Geben und Nehmen". Und mit dieser Haltung steht Piri nicht allein - Parlamentsvize Alexander Graf Lambsdorff glaubt sogar, es könnte bei der Visa-Liberalisierung im EP zum Eklat kommen und die Mehrheit verfehlt werden: "Ich sehe da ein dickes Fragezeichen, ob das gelingt."

Auch die europäischen Regierungen müssen der Visa-Befreiung zustimmen. Zwar hatte Angela Merkel selbst immer betont, es werde dabei keinen Rabatt für die Türkei geben, denn ihre eigene CDU sitzt ihr im Nacken. Deswegen soll auch eine Art Notbremse eingeführt werden: Wenn die Türkei die Bedingungen für die Visa-Liberalisierung künftig nicht mehr erfüllt, etwa Flüchtlinge aus Griechenland nicht mehr zurücknimmt, kann sie ohne Umstände ausgesetzt werden. Auch die skeptischen Franzosen wollten unbedingt eine solche Rückhol-Klausel.

Türkei Can Dündar Prozess
Prozess gegen den Cumhuriyet Chefredakteur Can DündarBild: Reuters/O. Orsal

Die Entwicklung geht rückwärts

Als im Oktober 2005 nach jahrelangen Vorverhandlungen die Beitrittsgespräche mit der Türkei aufgenommen wurden, war der Start voller Optimismus: Die Türkei könne ein Vorbild für andere muslimische Länder werden. Und Erdogan galt als junger Reformer, der sein Land in den Westen führen würde.

Heute erscheint diese Hoffnung fast absurd: "Wir beobachten einen Wandel der Haltung in der türkischen Führung. Die AKP begann mit einer Reformagenda und wird spätestens seit 2014 immer autoritärer", sagt Marc Pierini von Carnegie Europe, früher EU-Botschafter in der Türkei. Die negative Entwicklung zeige sich vor allem bei der Meinungsfreiheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz und in der Außenpolitik, etwa dem Umgang mit dem Syrien-Krieg. "Das ist eine Menge", meint Pierini.

Aber für die Enttäuschung über diese Wende rückwärts hat der frühere Diplomat wenig Verständnis, denn auch die EU habe Fehler gemacht: "Zwischen 2007 und 2011 waren Frankreich und Deutschland offen feindlich gegenüber den Beitrittsverhandlungen. Das kann auch bei der jetzigen Entwicklung eine Rolle gespielt haben." Es gehe jetzt nicht um Enttäuschung, sondern um den Umgang mit der Realität. Und da räumt Pierini ein, sei er nicht optimistisch: "Der Flüchtlings-Deal kann noch kaputt gehen und in Europa ein ernsthafter Rückschlag kommen", warnt er. Diese Krise werde nicht verschwinden, sondern im Gegenteil noch für viel Ärger sorgen.

Türkei Istanbul Unruhen Kurden Polizei
Die EU sollte "klare Kante" zeigen etwa bei Übergriffen gegen KurdenBild: Getty Images/B. Kilic

EU braucht eine Türkei-Strategie

Der SPD-Europaabgeordnete Ismail Ertug schüttelt den Kopf, wenn er die Empfehlung der EU-Kommission zur Türkei aus dem Jahr 2004 anschaut: "Der Beitritt der Türkei zur EU wird für beide Seiten eine Herausforderung", steht da. "Prophetische Worte", meint Ertug nur, aber keiner habe geahnt wie negativ sich die Türkei schließlich entwickeln würde. "Ich habe das nicht erwartet! Das Land hat sich quasi seit Atatürk zu Europa bekannt und die AKP am Anfang auch viele Reformen gestartet. Aber dann kam nach der 3. Wahlperiode eine solche Wendung!"

Auch der Europaabgeordnete glaubt, die EU hätte die Türkei auf dem Weg nach Europa besser begleiten müssen. Jetzt aber brauche man endlich eine Strategie: "Mehr Engagement und gleichzeitig klare Kante zeigen - das fehlt." Und die Europäer müssten dringend die Pro-EU-Kräfte stärken, vor allem bei der Jugend. Die Türkei sei ein dynamisches Land und habe es schon früher geschafft, Probleme aus eigener Kraft zu überwinden. Letzteres ist genau das Prinzip Hoffnung, das derzeit bei vielen Offiziellen in der EU hoch im Kurs steht.