Wiedervereinigung: Russland spricht von "Annexion der DDR"
2. Oktober 202333 Jahre ist es her. Am 3. Oktober 1990 ist die Deutsche Demokratische Republik offiziell dem Westen und dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten. 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Deutschen wieder in einem souveränen Staat vereint.
Dieses Kapitel in der Geschichte Deutschlands ist untrennbar mit der Geschichte der Sowjetunion und des dortigen KP-Generalsekretärs Michail Gorbatschow verbunden. Historiker haben sich schon seit langem an die unterschiedlichen Einschätzungen der Rolle von "Gorbi" in Deutschland und in Russland gewöhnt.
Allerdings ruft die aktuelle russische Interpretation der deutschen Wiedervereinigung unter deutschen Experten und Historikern Irritationen hervor. Im neuen russischen Schulbuch für Geschichte für die Oberstufe wird die Wiedervereinigung des Landes als "Annexion der DDR" bezeichnet. Das Buch erschien im September 2023. Die Autoren sind Wladimir Medinskij, ehemaliger russischer Kultusminister und Berater des Präsidenten Wladimir Putin, und Anatolij Torkunow, der Rektor des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen.
Antiwestliches Narrativ des Putin-Regimes
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges teilten die alliierten Staaten USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich das besiegte Deutschland in vier Sektoren auf. Die Siegermächte konnten sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft für Deutschland einigen. Es kam zu einem Zerwürfnis zwischen Ost und West. In den drei Westzonen wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet, in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik. Berlin wurde zum Brennpunkt im Kalten Krieg.
Die DDR existierte mehr als 40 Jahre. Das Jahr 1989 gilt als Meilenstein, der die Wende eingeleitet hat. Zum 40. Jahrestag der DDR gab es neben den Feierlichkeiten des SED-Regimes auch zahlreiche Proteste. Die "Friedliche Revolution" war nicht mehr zu stoppen. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, die erste und letzte freie Wahl in der DDR 1990, der Einigungsprozess und die Unterzeichnung des "Zwei-plus-vier-Vertrages" - dies waren Ereignisse, die im Endeffekt den Weg zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 03. Oktober 1990 ermöglicht haben.
"Aus der Sicht Putins und seiner 'Geschichtsfälscher' war die Vereinigung ein Akt der Kolonialisierung: der starke imperialistische Westen macht sich den schwachen Osten untertan", kommentiert Ute Frevert, Direktorin des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung die russische Interpretation: "Das entspricht zwar in keiner Weise den historischen Tatsachen. Aber es passt zum antiwestlichen Narrativ des Putin-Regimes".
"Medinskij-Buch" unter der Lupe
Bis vor kurzem waren die Inhalte des Unterrichtsstoffes in Russland ganz anders. So wird in einem vergleichbaren Schulbuch aus dem Jahr 2021 von einer friedlichen Revolution erzählt sowie von einem dringenden Bedürfnis nach einem politischen Systemwechsel, der im Laufe der tiefen politischen Krise in der DDR entstanden ist. Der Ausweg konnte nur durch "einen Machtwechsel gefunden werden", schreiben die Autoren dieses Schulbuches. Dieses "alte" Schulbuch aber biete laut russischen Behörden lediglich ein "Basisniveau" an. Ab dem 1. September 2023 verspricht das neue Geschichtsbuch, auch "Medinskij-Buch" genannt, einen tieferen Einblick in die neuste Geschichte.
Im "Medinskij-Buch" gibt es eine Passage, die den Abzug der sowjetischen Truppen aus Osteuropa 1989 eine "unüberlegte Entscheidung" nennt. Eine Entscheidung, die die militärische Präsenz der Sowjetunion in den mit ihr verbrüderten Ländern geschwächt und zu einem starken Anstieg nationalistischer und antisowjetischer Stimmungen geführt habe. Der kollektive Westen habe nicht gezögert, Gebrauch von diesen Entwicklungen zu machen, schreiben die Autoren.
Weiter steht dort: "Die DDR wurde von der BRD übernommen". Bebildert wird diese Aussage mit einem historischen Foto von 1990 von einem Plakat: "West und Ost gemeinsam. Zukunft für Deutschland und Europa". Direkt darunter erklären die Autoren des Buches: "Die Annexion durch die BRD hat eine Euphorie in der deutschen Gesellschaft ausgelöst".
"Umdeutung von Geschichte"
"Das ist eine klassische Umdeutung von Geschichte", sagt Niko Lamprecht, der Vorsitzende des Bundesverbandes der Geschichtslehrerinnen und -lehrer. "Präsident Putin hat das in den letzten über 20 Jahren auf verschiedenen Gebieten vollzogen. Jetzt ist wirklich das Unterste zuoberst. Putin hat die Geschichte völlig umgeschrieben. Aus seiner Sicht hat das 'Russische Imperium' alles Recht, sich dies und das zurückzuholen. Das Ganze hat nichts mit faktenbasierter Geschichte oder Völkerrecht zu tun".
Als die Wiedervereinigung im Gange war, gab es verschiedene Positionen, so Lamprecht. "Da gab es in der deutschen Politik auch dieses böse Schlagwort vom Anschluss. Putin deutet die Wiedervereinigung, die demokratisch legitimiert war, einfach um und benutzt diese damalige Minderheitsposition vom 'Anschluss' und führt diese noch weiter zur Annexion. Wenn Sie mich fragen, sage ich, ja, dies ist eine auf falschen Fakten basierende Umdeutung von Geschichte, die einen politischen Hintergrund hat", erklärt der Historiker.
Lamprecht erinnert daran, dass es 1989/90 in Deutschland nie eine Mehrheit gegen die Wiedervereinigung gab, sondern eine breite Mehrheit dafür: "Im Oktober 1990 sind keine bundesdeutschen Panzer über die Grenze gerollt, um dieses neue Gebiet zu besetzen. Das wurde ganz anders geregelt".
Heute sind an russischen Schulen beide Geschichtsbücher parallel zu finden. Wie lange dies so bleibt, ist unklar. In der Ausgabe 2021 geht es sowohl um die Bundestagswahl 1990 als auch um den Sieg der CDU in vier der fünf "neuen" Bundesländern. Hier wird den russischen Schülerinnen und Schülern noch deutlich gemacht, dass neben dem gemeinsamen Willen, sich zu vereinen, auch der Wunsch der Deutschen, nicht mehr im Sozialismus zu leben, die treibende Kraft des Vereinigungsprozesses war. Im "Medinskij-Buch" 2023 ist davon kein Wort mehr zu finden.
"In Russland findet spätestens seit einem Jahrzehnt eine deutliche und offensichtliche Nationalisierung der geschichtsbezogenen Diskurse statt", sagt Zaur Gasimov, Dozent für osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn. "Ein Bestandteil dieser Nationalisierung ist die Radikalisierung der Wortwahl und der Argumentation der Geschichtsnarrative. Besonders betroffen war der schulische Geschichtsunterricht, der einer intensiven Nationalisierung und daher auch der Radikalisierung ausgesetzt worden war. Nach der Annexion der Krim und dem Einmarsch in den Osten und Norden der Ukraine im Februar 2022 nahmen die oben erwähnten Phänomene weiter zu."
Wiedervereinigung hier, Zerfall des Sowjetreiches dort
Gasimov zufolge wird im neuen Schulbuch "die Wiedervereinigung in einem Kontext der Politik der Perestrojka von Gorbatschow wahrgenommen, die aus der Sicht des russischen Establishments den Zerfall des sowjetischen Imperiums mit ausgelöst hatte. Sie wird von Medinskij und dem weiteren Establishment als ein wichtiger Meilenstein in der Bewegung des gesamten Ostmitteleuropas und Baltikums in Richtung NATO wahrgenommen und als solche verdammt", sagt Gasimov und fügt hinzu: "Das ist ein möglicher Hintergrund im radikalen Begriffswandel von 'Wiedervereinigung' bis zur 'Annexion'".
"Tatsache bleibt aber: Vor 33 Jahren hat sich das Land wirtschaftlich und politisch wiedervereinigt. Und zwar freiwillig, friedlich und ohne Gewalt", sagt Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: "Nach über 40 Jahren Teilung in Ost und West, in DDR und Bundesrepublik, war das Land wieder geeint, mit einer freiheitlichen Verfassung und demokratischen Institutionen."
Dieser Text erschien im Original auf russisch.