Wiederauferstehung einer Waldlandschaft
16. Januar 2017"Lege niemals alle Eier in einen Korb", sagt Andreas Wiebe, Leiter von Wald und Forst NRW. Was der Behördenchef aller Förster im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) damit zum Ausdruck bringen will: "Pflanze niemals nur eine Sorte Bäume, säe nicht nur eine Art aus."
Wiebes Worten ist zu entnehmen, dass Forst und Politik aus der Katastrophe Mitte Januar 2007 gelernt haben, sie setzen auf Entwicklung der Artenvielfalt, statt auf Monokulturen. Wiebe vertritt eine der waldreichsten Regionen Deutschlands, das Rothaargebirge mit Sauer- und Siegerland. Ein Gebiet, das sprichwörtlich von Bäumen und dem Tourismus drumherum lebt. Sägewerke gibt es in kleinsten Dörfern. Waldbauern sind eine gute Partie, Waldarbeiter von der Natur gestählte Bodybuilder. "Das Land der tausend Berge" gilt auch als eines der größten Anbaugebiete für Weihnachtsbäume: Überall Nordmanntannen-Plantagen und Blaufichten-Kulturen, die schnell wachsen und raschen Profit bringen.
Fichtenkultur als Folge des Notstandes
Die Fichten galten bis zu den Tagen um den 18. Januar 2007 als "Geldbäume". Die Bestände der einst heimischen Eichen, Buchen und Birken waren zur Verhüttung von Holzkohle längst verbrannt worden. Im Dritten Reich wurde viel Wald für Baumaterial geopfert. Und nach 1945 wurden Bäume für die immensen Reparationszahlungen an die Kriegsgewinner abgeholzt. Also pflanzten die Waldbesitzer nach dem Zweiten Weltkrieg Fichten an - mehr aus der Not heraus als gut durchdacht. Überall entstanden schnell wachsende Monokulturen. Die Nadelbäume können nach 80 Jahren geerntet werden, bringen schneller Ertrag als die langsamer wachsenden Buchen, Eiben, Eichen und Tannen.
Fichten brauchen einen feuchten, aber keinen sumpfigen Standort. Die Tatsache aber, dass diese nordischen Nadelbäume keine tiefen Wurzeln bilden und sie viel zu dicht bepflanzt wurden - und somit keine stabilen, ausladenden Äste ausbilden konnten - führte zur Katastrophe.
Desaster und Depression
Jörn Hevedahl, damals in einem Sägewerk tätig, hatte die Wetterwarnungen gehört und die Satellitenbilder der herannahenden Unwetterfront im Internet abgerufen. Als die Kinder um 12 Uhr aus der Schule geschickt wurden, ahnte er, dass sich ein besonderes Wetterereignis ankündigte: "Um 14 Uhr rief ein großer Waldbesitzer an, der uns 70.000 Festmeter Sturmholz anbot, obwohl noch gar kein Holz lag." Er wollte wohl einen erquicklichen Preis aushandeln.
In der Nacht trafen dann die mörderischen Böen ein. Der Strom fiel aus. Autobahnen wurden gesperrt, der Verkehr ruhte nahezu. Mit bis zu 200 Kilometern pro Stunde fegte der Orkan über die zahllosen Bergrücken hinweg. Die schlanken Fichten hatten keine Chance, knickten um wie Streichhölzer. Andere Bäume wurden mitsamt ihres Wurzelballens aus der Erde gerissen. Da es vorher geregnet hatte, war der Boden aufgeweicht. Kyrill, so der Name des "Jahrhundert-Orkans", hinterließ jedenfalls kahle Gipfel.
Hevedahl spricht von Desaster und Großkatastrophe, die sich erst allmählich offenbarte. "Viele Waldbesitzer riefen in ihrer Not an, sie haben geweint. Ihr ganzer Wald war weg." Noch immer laufe es ihm bei den Erinnerungen kalt den Rücken runter, sagt er. Psychologischen Beistand leisten, rationale Denken - beides musste er leisten: "Wir bekamen plötzlich 200 LKW-Ladungen mit Holz angeliefert, jeden Tag, über eineinhalb Jahre. Es wurde an sechs Tagen in drei Schichten verarbeitet." Wegen des Überangebotes fiel der Preis für Nadelholz von 84 auf 60 Euro pro Festmeter.
In den Wäldern konnten sich die Forstleute nur vorsichtig vortasten: "Viele Hauptwege waren blockiert, unpassierbar. Schweres Gerät musste für teures Geld aus dem Ausland herangeschafft werden. Experten aus Österreich und Skandinavien wurden angefordert", erinnert sich Bernd Josef Schmitt, Leiter des Regionalforstamtes Märkisches Sauerland. "Sie blieben mit Familie einige Jahre, ihre Kinder gingen sogar hier zur Schule." In Schmitts Bezirk wurde in wenigen Stunden so viel Holz zerstört, wie sonst in zehn Jahren gefällt wird. Allesamt Fichten. 25 Millionen Fichten fielen Kyrill und der damit teuersten Naturkatastrophe in Europa zum Opfer.
Längst liegen Handbücher und Notfallpläne in Forstämtern und Ministerium, denn alle sind sich sicher: Solch ein Orkan kann jederzeit wieder über Deutschland hereinbrechen.
Die Lehren aus Kyrill
Wenige Tage vor dem zehnten Jahrestag der Katastrophe begutachtet NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) die Fläche. 13 Baumarten wurden angepflanzt. Der Anteil des Laubwaldes im Land ist seit 2007 von sieben auf 47 Prozent gestiegen - auch steuerfinanziert. "Mischwälder sind klimastabiler", teilt Remmel den Reportern mit.
Die meisten Kyrillflächen wurden aufgeforstet, einige sich selbst überlassen. Das Ziel ist ein stabiler, strukturreicher, produktiver und "klimaplastischer" Wald. Durch die Baumartenvielfalt mit Anteilen von Douglasie, Küstentanne, Weißtanne, Lärche und Schwarzkiefer soll die Biodiversität in den Wäldern erhöht werden.
"Schrecken für Forstbesitzer, Segen für die Natur"
Naturschützer Holger Sticht kann Kyrill nur Positives abgewinnen. "Es gab keine Wald-, sondern nur Forstschäden", argumentiert der Vorsitzende des NRW-Landesverbandes des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland). "In einem natürlich gewachsenen Wald sind die Bäume nicht alle gleich alt so wie in den Fichtenplantagen. Das Ökosystem mit Mischwäldern wäre widerstandsfähiger gewesen und nicht umgefallen 'wie Dominosteine'". Er hätte sich gewünscht, dass der Mensch auf die großflächige Wiederaufforstung verzichtet und weniger in die Natur eingegriffen hätte. "Ursprüngliche Wälder zeichnen sich durch ihren lichten Charakter aus."
Viele Arten brauchen solche Bedingungen, zum Beispiel der Grauspecht. Sein Bestand nimmt ab, da ihm alte Bäume zum Brüten in der Nähe von Wiesen fehlen, wo er Nahrung findet. "Man muss gar keine Bäume pflanzen", fügt Sticht hinzu, wohl wissend, dass Waldeigentümer vom Holzeinschlag wirtschaftlichen Nutzen haben. Für ihn ist es unerklärlich, dass die Forstbesitzer für ihre Fehler noch mit staatlichen Fördermitteln belohnt wurden.
Natur als ständiger Prozess
Nicht besser, sondern anders sei die Natur durch Kyrill geworden, findet Fred Josef Hansen. Der Grünen-Politiker ist im Hauptberuf Forstbeamter und Einsatzleiter der Ranger in Südwestfalen. Zu seinen Aufgaben gehört es, Erlebnistouren anzubieten und Touristen über Funktion und Schutz des Waldes und seiner Tiere und Pflanzen aufzuklären. "Nach Kyrill drangen Licht und Sonne an die kahlen Stellen und führten zur Explosion des Bodenwachstums", erklärt Hansen.
Danach kamen Insekten und daraufhin Vögel wie Zaunkönige und Spechte. Andere Arten wie Eulen bevorzugen die zunehmend bewaldeten Flächen. Luchse fühlen sich unter umgestürzten Bäumen wohl. Kyrill habe die Entwicklung der Biodiversität beschleunigt, so Hansen.
Im Gegensatz zu landwirtschaftlichen Flächen gebe es einen deutlichen Artenanstieg im Wald zu beobachten. "Natur ist ständig im Wandel und ein brutaler Kampf ums Überleben", erzählt Hansen bei Führungen.
Die Frage ist, ob und wie viel Einsatz der Mensch leisten sollte. NRW-Umweltminister Johannes Remmel jedenfalls hat bei seinem Exkurs ins Gelände die wachsende Zahl der Weihnachtsbaum-Plantagen kritisiert. Seit Kyrill hat sich die Fläche zum schnellen Anbau von Bäumen auf 4500 Hektar verdoppelt.