Wie Trockenheit die Türkei bedroht
18. August 2022Ali Kalcik macht seinen üblichen Spaziergang und blickt stolz über den unendlich scheinenden blauen Vansee. Ein Fünftel des Schilfbestandes der Türkei liege hier in der Region und das Schilf an den Ufern sei eine natürliche Kläranlage, sagt Kalcik, der Vorsitzender des örtlichen Vereins für Umwelt- und Denkmalschutz ist. Doch die Region habe in den vergangenen Jahren viel Schilfbestand durch Bebauung, Klimawandel, anhaltende Hitze und Trockenheit verloren.
Einheimische nennen den riesigen Vansee im Osten der Türkei Van Denizi, das Vanmeer. Der größte See des Landes ist ein sogenannter Steppensee, der keinen Abfluss hat und dessen Wasserstand abhängig von Niederschlägen und Verdunstungen ist. Im Juli stellten Wissenschaftler fest, dass der See zwei Quadratkilometer seiner Flüche von insgesamt 3700 Quadratkilometern verloren hat. Ob dies nur temporär ist, wird sich zeigen müssen.
Der Geograph Faruk Alaeddinoglu von der Universität Van beobachtet das Vansee-Becken, in dem rund eine Million Menschen leben, seit Jahren. Er sammelt Daten von mehreren Messstationen, die Lufttemperatur, Niederschläge, Hitzeperioden und Verdunstungen aufzeichnen. Seiner Meinung nach ist das größte Problem in diesem Teil des Landes die enorme Verdunstung durch steigende und anhaltende hohe Temperaturen.
Im Osten des Vansees liege die durchschnittliche Verdunstung seit 40 Jahren bei 1139,2 Millimetern, doch in den vergangenen beiden Jahren habe sich dieser Wert fast verdoppelt, sagt Alaeddinoglu. Nach seinen Angaben verschwanden seit 2019 kleinere Seen in der Region, die Heimat von Vogelarten wie Flamingos waren. Von diesen Seen sei kein Tropfen Wasser geblieben - sie seien samt Tieren und Pflanzen komplett verschwunden.
Dürre: Ein Problem der gesamten Türkei
Dem Amt für Meteorologie des Umweltministeriums zufolge sind insbesondere Gebiete am östlichen Mittelmeer und große Teile Anatoliens schwer getroffen. Am schlimmsten ist die Lage in Südosten des Landes. Diese Region ist auf der Karte des Ministeriums mit der höchsten Warnstufe "außergewöhnlich trocken" eingezeichnet.
Murat Türkes von der Bosporus-Universität forscht seit Jahren zu Klimawandel und Dürren in der Türkei. Das Land werde seit den 1970er Jahren immer wieder von Trockenheit heimgesucht, und zwar 1972-73, 1989-90, 2007-08, 2013-14 und 2019-20. Allerdings seien bis Ende der 1980er Jahre die Temperaturen nie so hoch gewesen wie heute. "Auch die Verdunstung war damals nicht so extrem wie in den vergangenen Jahren", sagt der Klimaforscher im Gespräch mit der DW.
Zu den Folgen der Hitzeperioden zählen harte Ernteeinbußen und viele Waldbrände: Vergangenes Jahr verlor die Türkei rund 120.000 Hektar Waldfläche.
Galten in den 70er Jahren noch 50 Prozent der Landesfläche als "trocken" oder "halbtrocken" sind es heute bereits 65 Prozent. Türkes und andere Wissenschaftler prognostizieren, dass 2050 die 80-Prozent-Marke erreicht wird. Mit regionalen Abweichungen rechnen Klimaforscher bis Ende des Jahrhunderts mit einen Temperaturanstieg für den Sommer um 5 bis 7 Grad, für Frühling und Herbst um 3 bis 5 Grad. Abgesehen von der Schwarzmeerregion und Nordostanatolien würden in der Türkei immer häufiger Dürre- und Hitzeperioden vorkommen, sagt Türkes voraus.
Wasserbestände schützen
Aus Sicht von Faruk Alaeddinoglu müsste man die vorhandenen Wasserbestände daher als knappes Gut betrachten und mit Sorgfalt schützen. Doch im Vansee-Becken sei das Gegenteil der Fall: Immer häufiger würden Menschen für die Versorgung ihrer Felder und Tiere auf unterirdische Quellen zurückgreifen. Wie ernst die Wasserknappheit sei, zeige sich auch an den Bohrtiefen: Früher habe man bereits nach 10 Metern Tiefe eine Quelle entdeckt, heute müsse dafür rund 100 Meter tief gebohrt werden. Alaeddinoglu mahnt: "Wir verbrauchen jetzt schon die Notfallreserven der Zukunft".
Durch die Verschiebung von Niederschlägen werde die Lage noch gefährlicher, meint der Wissenschaftler. Der winterliche Schnee falle im Frühjahr als Regen, der schnell verdunste. Der Regen im Frühling fehle häufig komplett. Für die Provinz Van, die hauptsächlich von Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus lebt, ist die Entwicklung verheerend - sie gehört schon jetzt zu den ärmsten Gegenden des Landes. Dabei könnte der Vansee nicht nur für die Region, auch für die Nachbarländer Iran und Irak eine Oase sein, glauben viele.
Ali Kalcik, der Vorsitzende des Schutzvereins Van, fordert ein Ende der Bebauung für den Tourismus, der jährlich vor allem viele Gäste aus dem Iran anzieht. Auch die Kanalisation dürfe nicht in den Vansee geleitet werden. Täglich landeten mehr als 457.000 Kubikmeter Abwasser im See, sagt er. Wenn dies so weitergehe, die Trockenheit sich fortsetze und auch das wertvolle Schilf verschwinde, werde der Vansee am Ende nur noch eine Schlammgrube sein.