Wie steht es um Myanmars Bürgerkrieg?
28. Juni 2022Wer hat die Oberhand? Das Militär, das seit dem Putsch mit brutaler Gewalt versucht, das Land zu kontrollieren, oder die Widerstandsbewegung, die mit Guerillataktiken gegen das Militär vorgeht? Die Frage stellen sich nicht nur die Menschen im Land, die unter dem Bürgerkrieg leiden, sondern auch die Nachbarländer und viele Beobachter.
In den letzten sechs Wochen sind in englischsprachigen Medien und Think Tanks mehrere Berichte, Kommentare und Interviews erschienen, die versuchen, diese zentrale Frage zu beantworten. Den Auftakt machte das englische Magazin "The Economist", gefolgt von einer Analyse des Militär- und Sicherheitsexperten Anthony Davis in "Asia Times". Davis hat danach dem Magazin "The Irrawaddy" ein Interview gegeben, in dem er erläutert, warum er die Lage kurz nach dem Putsch für aussichtslos hielt, inzwischen aber an eine Konsolidierung der Widerstandsbewegung glaubt. Michael Martin fragte in einem Kommentar für das "Center for Strategic and International Studies" aus Washington: "Is Myanmar's Military on Its Last Legs?" John Reed berichtete für die Financial Times und schließlich veröffentlichten Ye Myo Hein und Lucas Meyer einen Kommentar auf der Webseite "War on the Rocks", die auf Militär- und Sicherheitsthemen spezialisiert ist.
Abweichende Einschätzungen
Die Beiträge unterscheiden sich naturgemäß in Länge und Detailtiefe. Die Beiträge von Davies in der "Asia Times" bzw. "The Irrawaddy" und der Beitrag von Ye Myo Hein und Lucas Meyer in "War on the Rocks" sind die umfangreichsten, enthalten die meisten Informationen, aber auch viele Wenn-Dann-Konstruktionen im Konjunktiv: Wenn X passiert, dann könnte Y die Folge sein.
Auffällig ist aber vor allem, dass die Beiträge zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen der militärischen Lage in Myanmar kommen.
"The Economist" bemerkt, dass in den sozialen Medien in Myanmar das "Narrativ des unmittelbar bevorstehendes Sieges" der Widerstandsbewegung verbreitet werde. Die Fakten, so der Beitrag, sprächen aber eine andere Sprache: "Wenn man durch den virtuellen Nebel blickt, ergibt sich ein weitaus düstereres Bild... Bewaffnete Antiregime-Gruppen sind zersplittert, bis zu einem Dutzend in einem einzigen Bezirk. Aufgrund des Mangels an Waffen sind sie nicht in der Lage, mehr als Guerillaüberfälle und Attentate zu verüben."
Am anderen Ende des Spektrums steht Michael Martin mit seinem Kommentar für den CSIS. Er schreibt: "Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Myanmars Militär ums Überleben kämpft."
Die anderen genannten Beiträge liegen mit ihren Einschätzungen zwischen den beiden Polen. Dabei ist aber festzuhalten, dass alle Berichte, mit Ausnahme des Beitrags im "Economist", davon ausgehen, dass sich die Lage in den letzten Monaten zugunsten des Widerstands verschoben hat. Wie weit, darüber gehen die Einschätzungen dann aber wieder auseinander.
Divergierende Datenlage
Bei Betrachtung der Details wird deutlich, dass es nicht nur bei der Einschätzung der Gesamtlage große Unterschiede gibt. So heißt es beispielsweise im Beitrag von "War on the Rocks", dass die "People's Defense Forces" (PDF) genannten bewaffneten Widerstandsgruppen etwa 100.000 Kämpfer rekrutiert hätten, von denen 40 Prozent in irgendeiner Art und Weise bewaffnet seien. Woher diese Daten stammen bleibt offen.
Davis spricht in seinem Interview mit "The Irrawaddy" von 50.000 bis 100.000 Kämpfern und benennt als Quelle das Verteidigungsministerium des National Unity Governments (NUG). Davis gibt weiter an, dass von den PDFs weniger als 20 Prozent bewaffnet worden seien. Zur Quelle muss angemerkt werden: Beim NUG handelt es sich um die zum großen Teil im Exil lebende Gegenregierung, die für sich beansprucht, Myanmar politisch zu repräsentieren. Das NUG ist also Konfliktpartei. Ihre Angaben können nicht unabhängig überprüft werden. Bemerkenswert ist zudem, dass auch die Regierung nicht genau beziffern kann, wie viele Mitglieder der aktive Widerstand hat, was unter anderem daran liegt, dass es keine etablierte Befehlskette von NUG zu den PDFs gibt, die mehr oder weniger autark agieren.
Min Zaw Oo vom "Myanmar Institute for Peace and Security" (MIPS) wiederum schätzt im Gespräch mit der Deutschen Welle, dass nur zehn Prozent der PDFs mit automatischen Waffen ausgestattet sind. Er kommt zu diesen Zahlen aufgrund von Hochrechnungen von Berichten über beschlagnahmte oder gefundene Waffen nach Gefechten. Viel schwerer als fehlende Waffen wiege allerdings der Mangel an Munition, der sich daraus ableiten ließe, dass die Gefechte mit dem Militär in der Regel nicht länger als eine Stunde anhalten.
Parteiische Berichterstattung
In den meisten Artikeln zum Thema wird die gerade beispielhaft erläuterte problematische Datenlage eigens thematisiert. Davis schreibt explizit in "Asia Times": "Eine kohärente Analyse wird durch die große Zahl und räumliche Ausbreitung von Zusammenstößen und Angriffen kleinerer Einheiten in weiten Teilen des Landes erschwert sowie durch den eklatanten Mangel an unparteiischer Berichterstattung von den Frontlinien eines von der Außenwelt weitgehend abgeschirmten Bürgerkriegs."
Den Punkt der parteiischen Berichterstattung betont auch der myanmarische Journalist Cape Diamond im Bericht für den "Economist": "Die lokalen Medien liefern einfach nicht das ganze Bild. Sie unterschlagen häufig die Niederlagen [der PDFs]."
Nebel des Kriegs ist undurchdringlich
Die Ungewissheit kann nicht genug betont werden. Es fehlt an landesweit erhobenen verlässlichen Informationen über die aktuelle Lage im Land. Es gibt einzelne, unabhängig nur schwer überprüfbare Berichte zumeist von lokal begrenzten Ereignissen. Min Zaw Oo ist deshalb skeptisch, was Einschätzungen der Gesamtlage oder gar einen Ausgang des Konflikts betrifft. Er sagt: "Verschiedene Regionen müssen verschieden bewertet werden."
Ähnlich argumentiert das "International Institute for Strategic Studies", das eine interaktive Karte des aktuellen Konflikts erstellt hat: "Die Karte versucht nicht festzustellen, ob (das Militär oder die Widerstandsgruppen) 'gewinnen', sondern betont, dass der Putsch die seit langem bestehenden Machtkämpfe verändert hat, indem er neue Akteure und Allianzen eingeführt hat, mit ungleichen Auswirkungen im ganzen Land."
Das einzige, was mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass sich die Gewalt seit dem Putsch verlagert, ausgebreitet und intensiviert hat. Die Frage, welche Seite den Bürgerkrieg zukünftig für sich entscheidet, bleibt offen.