"Nein, Entführungen sind nicht okay"
14. Februar 2022Die einzige Spur, die man noch von ihm fand, war sein Auto, die Türen offen, die Reifen platt. Orhan Inandı, Direktor einer Schule im kirgisischen Bischkek, war 2020 verschwunden. Zeugen gab es nicht.
Eine Ermittlergruppe wurde eingesetzt, Indizien ausgewertet, selbst der kirgisische Präsident schaltete sich ein.
Wochen später war klar: Inandı war entführt worden. Nicht von Banditen oder der Mafia - der türkische Geheimdienst MİT hatte ihn ergriffen und illegal außer Landes gebracht, weil er politische Gegner des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterstützt haben soll. Inandı ist damit einer der jüngsten Fälle staatlicher Entführung.
Von Mord bis Mobbing
Tatsächlich haben laut Zahlen des US-Think-Tanks Freedom House mindestens 31 Staaten seit 2014 das Völkerrecht gebrochen, indem sie Bürger im Ausland verfolgten - mit unterschiedlichen Methoden: Neben illegalen Entführungen setzen Verfolgerstaaten oft auf die Kooperation des Landes, in dem sich Oppositionelle aufhalten, und drängen sie zur Deportation. Daneben stehen noch Attentate und nicht-tödliche Angriffe sowie Einschüchterungen auf der Liste. Hinzu kommen Menschen, die für immer spurlos verschwinden. "Regime können Exilanten leichter erreichen als je zuvor", sagt Freedom-House-Expertin Isabel Linzer, "auch in Form von Spionageprogrammen, durch Überwachung und Einschüchterung in sozialen Medien".
Laut des Berichts von Freedom House seien seit 2014 insgesamt 607 Morde, Entführungen und andere Attacken dokumentiert. Nicht eingerechnet Cyber-Spionage und Online-Schikanen. "Aber selbst das ist ein unvollständiger Schnappschuss eines weit größeren Problems", sagt Linzer, die die Daten zusammengetragen hat, "und es wird definitiv schlimmer." Andreas Schüller vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) pflichtet dem bei: "Internationales Recht wird immer weniger beachtet und durchgesetzt, insbesondere von autoritären Staaten."
Am häufigsten attackieren laut Freedom House China, die Türkei und Ägypten Staatsbürger auf fremdem Territorium. Aber es sei nicht nur eine Praxis dieser Staaten, so Schüller vom ECCHR: "Auch die USA haben sich im Rahmen ihres Kriegs gegen den Terror dessen bedient und es bis heute nicht ordentlich aufgearbeitet und sanktioniert." Dazu zählen beispielsweise die Entführung und Folterung des Deutschen Khaled al-Masri durch die CIA und deren Attentatsplänen auf Julian Assange wie Yahoo News zuerst berichtete.
Solche Aktionen seien nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch illegal, so Schüller. Allerdings genössen amtierende Staatsoberhäupter auch vor Gerichten anderer Staaten Immunität, nicht jedoch beispielsweise Geheimdienstchefs, die Entführungen oder Morde beauftragten.
Meist stehen steigende Zahlen solcher Attacken mit politischen Großereignissen in Zusammenhang, nach denen Regierungen Oppositionelle im Exil zum Schweigen oder unter Kontrolle bringen wollen.
China: Jagd auf Uiguren im Exil
China, dem laut Freedom House aggressivsten Verfolger-Staat, konnten 2015 erheblich mehr Fälle nachgewiesen werden als zuvor. Im Jahr zuvor hatte China in der Provinz Xinjiang begonnen, die turkstämmige Volksgruppe der Uiguren im Namen des “Volkskrieges gegen den Terror” zu unterdrücken und zu assimilieren.
Diese aggressive Politik führt China auch im Ausland fort. Dabei setzt China oft auf die Kooperation mit den Ländern, in denen sich die Opfer aufhalten. Staaten wie etwa Thailand inszenieren nach der Verhaftung Gerichtsprozesse ohne faires Verfahren, an deren Ende eine Deportation nach China steht. So bleibt der Schein von Rechtsstaatlichkeit gewahrt. Entführungen ohne Prozess setzte China nur in zehn Prozent der von Freedom House dokumentierten Fälle ein.
Mord und Attentate sind selten
In der Öffentlichkeit prominent diskutiert werden allerdings eher die besonders schockierenden Fälle wie der Gift-Anschlag auf Sergej Skripal und der der Mord an Jamal Khashoggi. Seit 2014 sind laut Daten von Freedom House allerdings "nur" 26 internationale Morde und 20 tätliche Angriffe dokumentiert. Russland führt die Liste mit sieben tödlichen Attentaten an.
Die meisten Länder, die zu völkerrechtswidrigen Maßnahmen greifen, setzen eher darauf, ihre Gegner durch Verhaftungen, Deportationen und vor allem Entführungen unter Kontrolle zu bringen. Die Zahl dieser Verbrechen liegt zwölfmal höher.
Auch Ägypten verfolgt Oppositionelle im Ausland laut Freedom House ausschließlich mit nicht-tödlichen Mitteln. Zuletzt schossen im Jahr 2019 die Zahlen von Verhaftungen, Entführungen und Deportationen politischer Aktivisten im Exil in die Höhe. Das Land am Nil verstößt im arabischen Raum damit am häufigsten gegen die entsprechenden internationalen Standards.
Türkei: Regierung feiert Bruch des Völkerrechts
Noch aktiver als Ägypten ist die Türkei, die seit dem Putsch gegen die Regierung Erdogan im Jahr 2016 hart gegen Gegner im Ausland, vornehmlich echte und vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung, vorgeht. Wie auch Ägypten setzt die Türkei kaum auf Kooperationen mit Ländern, in denen sich die Opfer aufhalten. Stattdessen seien illegale Entführungen das Mittel der Wahl, sagt Linzer. "Kein anderes Land der Welt hat in den vergangenen Jahren eine so große Anzahl von Rückführungen aus so vielen verschiedenen Ländern durchgeführt", so die Expertin. Oft blieben solche Aktionen unter dem Radar: "Die meisten Menschen haben wahrscheinlich noch nie davon gehört, dass die Türkei zum Beispiel Menschen aus Kenia 'zurückholt'".
Dabei geht die Türkei nicht heimlich vor. Im Gegenteil: Während viele Länder Entführungen vertuschen oder bestreiten, brüsten sich Regierungsvertreter mit illegalen Ergreifungen mithilfe des türkischen Geheimdienstes MİT. Experten fürchten, dass das türkische Vorgehen Vorbild für andere Länder werden könnte. UN-Ermittler forderten die Türkei in einem öffentlichen Brief bereits auf, die Entführungen einzustellen.
"Entführungen sind nicht okay"
"Aber wir haben auch einige gute Schritte zur Bekämpfung der transnationalen Repression gesehen", sagt Linzer von Freedom House. So hätten Schweden und andere nordische Länder Gesetze gegen sogenannte "Flüchtlingsspionage" erlassen, die es explizit verbieten, Informationen über geflohene Menschen zu sammeln.
Daneben könnten Sanktionen gegen Regierungsmitglieder des Aggressor-Staats oder Waffenembargos verhängt werden. Auch die Ausweisung von Diplomaten sei ein adäquater Schritt. Am Ende ginge es darum, so Linzer, die Kosten solcher Aktionen zu erhöhen und "international Normen zu schaffen, die sagen: 'Nein, es ist nicht okay, Menschen zu entführen.'"
Im Fall des entführten Schuldirektors Orhan Inandı sind solche Konsequenzen bisher ausgeblieben. Auf im November veröffentlichten Fotos des türkischen Silivri-Gefängnisses ist Inandı lebendig zu sehen. Einen Arm in einer Schlaufe gebunden. Nach der Folter im Gefängnis sei der gebrochene Knochen nicht behandelt worden, sagt seine Frau auf Twitter. Seit Monaten könne ihr Mann den Arm nicht mehr bewegen.