Ist Deutschland sicher für LGBTI-Reisende?
27. Juli 2019Im Frühjahr schlug die Berliner Redaktion des "Spartacus" Alarm. Im Reise-Ranking ihres jüngsten Gay Travel Index (GTI) sei Deutschland stark abgefallen, von Platz 3 auf Platz 23. Der Grund sei vor allem die zunehmende Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle (LGBTI), sagt Leander Milbrecht vom "Spartacus" der Deutschen Welle. "Der Absturz Deutschlands im Gay Travel Index 2019 ist dem Anstieg gemeldeter Verbrechen gegen und Übergriffe auf LGBTI-Personen geschuldet", so Milbrecht. Er verweist darauf, dass im Jahre 2018 allein in Berlin die Polizei 225 Straftaten gegen queere Menschen gezählt habe, 54 mehr als 2017. Queer werden Menschen genannt, die von der Heteronormativität abweichen.
Zunehmende Hasskriminalität
Das schwule Berliner Anti-Gewalt Projekt "Maneo" hat für 2018 sogar 382 Übergriffe auf queere Personen gemeldet, 58 mehr als im Vorjahr. Milbrecht macht geltend, dass laut Zahlen der Bundesregierung ähnliche Tendenzen in ganz Deutschland zu beobachten sind. Zudem gehen Experten von einer hohen Dunkelziffer von Menschen aus, die solche Übergriffe nicht anzeigen.
Die Redaktion des "Spartacus", die sich mit Reiseführern für schwule Männer einen Namen gemacht hat, lässt sich in dem jährlich für 197 Länder und Regionen ermittelten GTI von diesen Kriterien leiten: Existieren Gefährdungen durch Verfolgung, Todesstrafe oder eben gewalttätige Übergriffe? Gibt es staatlich sanktionierte Diskriminierungen, etwa Reisebeschränkungen für HIV-Positive oder das Verbot von Pride-Paraden? Und wie steht es um die Bürgerrechte? Darunter fällt auch die "Ehe für alle", die in Deutschland im vorvergangenen Jahr eingeführt wurde.
Deutschland gilt in den Augen der Weltgemeinschaft bisher als ein freies und tolerantes Land. Und Berlin als ein Sehnsuchtsort für bedrohte Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle, die aus ihren Heimatländern in die deutsche Hauptstadt fliehen. Sollte sich das alles dramatisch geändert haben? Muss man gar eine Reisewarnung aussprechen, gerade jetzt, wo überall in Deutschlands Städten unter Beteiligung vieler LGBTI-Reisender der Christopher Street Day (CSD) gefeiert wird?
Bedrohung von Rechts
Jan Noll, Chefredakteur des queeren Berliner Stadtmagazins "Siegessäule", rät gegenüber der DW zur Zurückhaltung: "Ich würde nicht sagen, dass homophobe Übergriffe in Deutschland ein Ausmaß angenommen haben, dass man queeren Menschen davon abraten müsste, hierher zu reisen." Noll vermutet wie andere Experten auch, dass der Anstieg der Zahlen auch einer vermehrten Bereitschaft der Opfer zu verdanken ist, die Übergriffe anzuzeigen.
Ähnlich sieht es David Staeglich-Büge vom Vorstand des Berliner CSD, der an diesem Wochenende ganz groß mit einer Parade gefeiert wird. Natürlich würde er sich freuen, wenn Deutschland bei der Kategorie Sicherheit auf Platz 1 wäre, sagt er der DW. Doch für Berlin habe sich nichts geändert: "Das Sicherheitsgefühl innerhalb der Berliner Community ist immer noch sehr groß."
Dennoch mache sich in der Szene zunehmend Unsicherheit breit, sagt Staeglich. Doch für ihn kommt sie eher aus der politischen Ecke: "Die Bedrohung von Rechts wird stärker wahrgenommen als die Bedrohung durch Hasskriminalität." Auf den Berliner CSD, den größten und internationalsten in Deutschland, hat das nach Angaben der Veranstalter keine Auswirkung.
Keine Auswirkung auf CSD
Im Gegenteil: Im 50. Jubiläumsjahr des New Yorker Stonewall-Aufstandes schwuler Männer gegen Polizei-Willkür werden aus aller Welt sogar noch mehr Teilnehmer als sonst in der deutschen Hauptstadt erwartet. Offensichtlich lassen sie sich von Meldungen über steigende Gewaltbereitschaft gegenüber der LGBTI-Community nicht beeindrucken.
Dennoch: Dass Deutschland auf den Anstieg der gemeldeten Übergriffe nicht mit einem Aktionsplan reagiert habe, wirkt sich aus Sicht von "Spartacus" nochmals negativ auf das Ranking im GTI aus. "Der französische Präsident Macron reagierte auf einen ähnlichen Anstieg", sagt Leander Milbrecht. In Deutschland dagegen haben nur Länder wie Berlin Aktionspläne beschlossen. Auf Bundesebene ist bisher keine vergleichbare Initiative geplant.
Den dritten dicken Minuspunkt für das Reiseland Deutschland sieht "Spartacus" im Fehlen einer modernen Gesetzgebung für Trans- und Intersexuelle. Das im Dezember 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Dritten Option, das neben männlich und weiblich auch erstmals die Geschlechterangabe "divers" zulässt, wird von der LGBTI-Community scharf kritisiert. Denn weiterhin wird es laut Siegessäule-Chefredakteur Jan Noll "vor allem trans* Personen mitunter unfassbar schwer gemacht, ihren Personenstand zu ändern".
Ungleichheit vor dem Gesetz
Der Grund ist laut Noll Schlamperei bei der Formulierung des Gesetzes. Das Ergebnis ist aus Sicht der LGBTI-Community eine gesetzlich festgeschriebene Benachteiligung der Transsexuellen. Denn ob das Gesetz nur für intersexuelle Personen gilt oder auch für trans* Personen, wird von Behörden in Deutschland gegenwärtig unterschiedlich geregelt.
Ob diese rechtliche Unsicherheit ausschlaggebend für ein Reise-Ranking ist, daran scheiden sich allerdings die Geister. Kritik an Spartacus kommt sogar von Experten aus der LGBTI-Community wie Jan Noll: "Die Kriterien, auf die sich hier der Spartakus bezieht, sind politische Kriterien, die sich nicht auf der Straße manifestieren. Das sind keine Kriterien, an die man seine Reisepläne knüpfen muss."
Noch tun das die meisten auch nicht. Doch für die Zukunft geht es um viel: Die Deutsche Zentrale für Tourismus sieht im internationalen "LGBTI-Tourismus" ein wichtiges Marktsegment. Nach ihren Schätzungen, die der DW vorliegen, werden drei Prozent aller Deutschlandreisen, jährlich insgesamt 1,2 Millionen, diesem Bereich zugerechnet. Und in Berlin soll es sogar jede 6. Hotelbuchung sein.
Ansporn genug, sich bald wieder ganz oben im Reise-Ranking des GTI einen Platz an der Sonne zu sichern, möglichst auf Platz 1. Den teilen sich zur Zeit drei Länder: Kanada, Schweden und Portugal.