Wie Israel sich seit dem 7. Oktober verändert hat
4. Oktober 2024In Tel Aviv sind viele der zahlreichen Wolkenkratzer mit der israelischen Flagge und zwei hebräischen Wörtern geschmückt: "Beyachad Nenatze'ach" - "Gemeinsam werden wir siegen".
Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich ein anderes Bild in den Straßen von Israels Wirtschafts- und Kulturmetropole: Einerseits sind da die Plakate und Anzeigen der Angehörigen von den Geiseln der Hamas, die ein Abkommen fordern, das ihre Lieben nach Hause bringt - auch wenn dies das Ende des Kampfes gegen die Hamas bedeuten würde. Auf der anderen Seite hängen die Bilder von gefallenen Soldaten - verbunden mit dem Aufruf, den Krieg bis zum "vollkommenen Sieg" fortzuführen.
Dieser Gegensatz steht sinnbildlich für die Spaltung der israelischen Gesellschaft. Es geht um die Frage, die das Land in seinen Grundfesten erschüttert: Ist es die Heimkehr der Geiseln wert, den Krieg zu beenden?
Eine Gesellschaft im Schockzustand
Bereits in den Monaten vor dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 zeigten sich Risse in der israelischen Gesellschaft. Monatelang hatte es Proteste gegen die Justizreformen gegeben, die die rechtsreligiöse Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu umsetzen wollte.
Dann kamen Kämpfer der Hamas über die Grenze aus dem Gazastreifen, ermordeten rund 1200 Menschen, fast alle Zivilisten, und verschleppten mehr als 250 Geiseln. Die islamistische Hamas regiert den Gazastreifen de facto seit 2007, wird aber von Deutschland, den USA und anderen Ländern sowie der EU nicht als Regierung, sondern als terroristische Organisation eingestuft.
Nach dem Terrorangriff stand die israelische Gesellschaft zunächst vollkommen unter Schock. Vielen kam es so vor, als sei ihre Regierung außerstande, die Krise zu bewältigen, und viele Zivilisten nahmen die Sache selbst in die Hand.
Es entstanden zivile Notfallzentren, die alles Mögliche organisierten. Von Geldspenden für die Kampfausrüstung der Soldaten über die Vermittlung von Hotels und Unterkünften für die Tausenden, die aus ihren Häusern fliehen mussten bis hin zur Vermittlung von Feldarbeitern für die Landwirtschaft, um die eingewanderten Arbeiter zu ersetzen, die wegen des Krieges geflohen waren. In gewisser Weise übernahmen zivilgesellschaftliche und private Initiativen die Rolle der Regierung. Und zeitweise entstand der Eindruck, sie seien die Einzigen, die das Land am Laufen hielten.
Bittere Spaltungen in Israel
Ein Jahr später ist vom Geist des Zusammenhalts nicht mehr viel übrig. Die alten Gräben sind wieder aufgerissen: Mittlerweile ist die Forderung nach einer Freilassung der Geiseln zum Synonym für die Ablehnung der Kriegspolitik der Regierung geworden. Beleidigungen gegen Familienangehörige der Geiseln sind - sowohl in Sozialen Medien als auch auf der Straße - mittlerweile üblich. Es ist auch schon zu körperlichen Angriffen gekommen. Das Wort, das viele dabei wählen. ist "Smolanim". Das bedeutet so viel wie "Linker" und gilt in vielen Teilen der israelischen Gesellschaft längst als Beleidigung.
Nach Ansicht vieler Anhänger der rechten israelischen Regierung ist die Kampagne für die Freilassung der Geiseln von Teilen der Gesellschaft übernommen worden, die den Sturz der aktuellen Regierung anstreben. Sie gehen Menschen wie Gil Dickmann scharf an. Der Cousin der im August 2024 ermordeten Geisel Carmel Gat ist eine bekannte Figur in der Kampagne der Geiselfamilien. In Sozialen Medien sei er mit seiner Haltung sogar schon für die Ermordung seiner Cousine verantwortlich gemacht worden, sagt er.
Viele Widersacher der Geiselfamilien argumentieren, dass die Kampagne für die Freilassung ihrer Verwandten die Verhandlungsposition der Hamas gegenüber Israel stärke. Dickmann hingegen glaubt, dass solche Argumente nur einem Mann dienen: Premierminister Benjamin Netanjahu.
Worüber kann man sich noch einig werden?
Shmuel Rosner ist Meinungsforscher und Journalist bei der Israeli Public Broadcasting Corporation. In seinem Podcast sprach Rosner über die so genannte "Sphäre der Übereinkunft". Damit ist die Schnittmenge an grundlegenden Fragen gemeint, auf die sich Israels unterschiedliche politische Richtungen noch einigen können.
Und diese Schnittmenge, meint Rosner, habe sich seit dem 7. Oktober verändert: "Auf der einen Seite gibt es Themen, die mittlerweile unstrittig sind, zum Beispiel die Präsenz der israelischen Armee (IDF) im Westjordanland und im Gazastreifen." Die seit Jahrzehnten anhaltende Besetzung des Westjordanlandes, die nach internationalem Recht illegal ist, werde heute von einem größeren Teil der Öffentlichkeit als notwendig angesehen als vor den Angriffen der Hamas am 7. Oktober 2023.
Andererseits, sagt Rosner, habe der Krieg radikalen Gruppen in der israelischen Gesellschaft die Möglichkeit gegeben, Ideen zu legitimieren, die zuvor tabu gewesen seien. Als Beispiel nennt er den sogenannten "Transfer" - gemeint ist die Zwangsvertreibung von Palästinensern aus dem gesamten Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer. "Solche Ideen standen früher am Rande der israelischen Gesellschaft, jetzt ist es legitim, über sie zu sprechen", sagt Rosner. Das Ergebnis sei die Wiederkehr von Konflikten, von denen viele Israelis dachten, sie seien überwunden. "Das macht es schwieriger, eine Sphäre der Übereinkunft zu schaffen."
Viele Israelis fühlen sich nicht sicher
Ein Jahr nach dem schlimmsten Terroranschlag in der Geschichte Israels, dem Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen, vielen Geiseln, die immer noch von der Hamas festgehalten werden, Zehntausenden von Israelis, die im Norden des Landes nicht nach Hause zurückkehren können, und mit einem scheinbar unvermeidlichen Krieg mit der Hisbollah im Libanon stellt sich eine entscheidende Frage: Fühlen sich die Israelis sicherer, wenn sie sehen, wie ihre Regierung mit dieser Situation umgeht?
Eine Umfrage des israelischen Instituts für nationale Sicherheitsstudien (INSS) vom September 2024 deutet auf das Gegenteil hin. Der Umfrage zufolge haben 31 Prozent der Israelis ein "geringes" oder "sehr geringes" Sicherheitsgefühl, während nur 21 Prozent angaben, ihr Sicherheitsgefühl sei "hoch" oder "sehr hoch".
Die Zahl der Israelis, die das Land verlassen, war schon vor dem 7. Oktober gestiegen. Offizielle Statistiken des israelischen Zentralamts für Statistik (ICBS) zeigen, dass im Jahr 2023 mehr Israelis das Land verließen als 2022. Nach vorläufigen Zahlen für 2024 ist die Zahl weiter nach oben geklettert.
Doch inmitten der politischen Botschaften und hitzigen Debatten sind die Straßen von Tel Aviv auch voll von kleineren, weniger sichtbaren Aufklebern. Sie zeigen Gesichter, Namen und Geschichten. Es sind die Gesichter derjenigen, die am 7. Oktober oder während des Krieges in Gaza getötet wurden. Ihre Geschichten könnten das Letzte sein, was der israelischen Gesellschaft bleibt, um zusammenzufinden.
Aus dem Englischen von Jan D. Walter