Wie ich im Spessart lernte, den Wald zu lieben
24. Juli 2018Kürzlich rief ich eine Freundin an, eine Deutsche, das muss man dazu sagen. Sie ging nicht dran, schrieb mir aber später eine Nachricht. Darin stand: "Ich bin im Wald." Zugegeben, ein sehr knapper Satz, in dem aber trotzdem eine ganze Menge steckt, ganz besonders in einem Land, in dessen Herzen der Wald so tief verwurzelt ist wie in Deutschland.
Ihre vier Worte waren nicht dazu gedacht mir mitzuteilen, wo sie sich tatsächlich befand. Vielmehr gab sie mir zu verstehen, dass sie das Bedürfnis hatte, Ruhe und Frieden zu finden. So und nicht anders verstehen die Deutschen den Wald.
Dieses Sehnsuchtsgefühl habe ich wirklich versucht zu verstehen, lange schon. Aber irgendwie entzieht es sich mir. Um die Wahrheit zu sagen, ich mag es nicht besonders, alleine im Wald zu sein. Ich finde es da zu dunkel, im Dickicht vermute ich Schattengestalten und die Ruhe unter den Bäumen beunruhigt mich auch eher, als dass sie zu meiner Entspannung beiträgt.
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Wovor ich mich genau fürchte, kann ich nicht sagen. Vielleicht ist es die Überraschung oder dass ich nicht weiß, was hinter dem nächsten Baum, im Schatten, in der Stille auf mich lauert. Hexen in Knusperhäuschen vielleicht? Großmütter mit spitzen, grauen Fellohren?
Was auch immer die Quelle meiner Angst ist, ich habe in letzter Zeit immer wieder darüber nachgedacht, dass es eigentlich absurd ist, sich vor dem Wald zu fürchten. Schließlich werden Bäume überall auf der Welt in rasender Geschwindigkeit gerodet, um Monokulturen Platz zu machen. Also, der Wald hätte viel mehr Grund, sich vor den Menschen zu fürchten als anders herum.
Auf in den Wald
Während ich mich also mit solchen Fragen beschäftige, mache ich mich auf in den Spessart, ein Waldgebiet in Süddeutschland. 2.500 Quadratkilometer ist es groß, bergig und streckt seine Ausläufer in die Bundesländer Bayern und Hessen. Seit der Bronzezeit siedeln hier Menschen. Der Spessart ist eines der größten, durchgehend bewaldeten Gebiete Deutschlands.
Ich bin nicht alleine hier, sondern schließe mich einer Gruppe von Menschen an, die eine Woche lang beim sogenannten Bergwaldprojekt mitarbeiten will. Sie tun das freiwillig, kommen aus allen Teilen der Republik hierher, von jung bis alt ist alles vertreten.
Das gemeinnützige Bergwaldprojekt gibt es seit über dreißig Jahren. Es wurde gegründet, um Menschen den Wald näher zu bringen und damit dem Wald zu helfen.
Als ich zu ihnen stoße, sind sie schon seit drei Tagen bei der Arbeit. Sie räumen Schäden auf, die Burghild verursacht hat, ein Sturm, so kraftvoll wie sein Name. Burghild und andere heftige Winde haben allein im Spessart Anfang 2018 zwischen 17.000 und 20.000 große Bäume entwurzelt.
Alle umgestürzten Stämme wegzuschaffen, hat Monate gedauert. Nun durchkämmt das Team des Bergwaldprojekts die zerfurchten und aufgewühlten Hügel, um den Förstern hier zu helfen, tiefer sitzende Schäden zu erkennen.
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Ich treffe Armin, er arbeitet seit acht Jahren ehrenamtlich für das Projekt. Für vier oder fünf Wochen jährlich ist er in den Wäldern unterwegs und weiß genau, was zu tun ist.
"Unsere Arbeit hier ist zu gucken, wie der Bestand von kleinen Pflänzchen nach diesem Sturm ist", erklärt er. "Wir befreien sie von den umgefallenen, damit sie eine Chance haben, weiter zu wachsen."
Das Team hat eine ganze Menge Setzlinge gefunden und freilegen können, die Burghilds Zorn überlebt haben.
"Zum Glück stehen hier schon sehr viele kleine Bäume, die schon unter den großen standen", sagt Projektleiter Christoph Wehner. "Aber auf Teilflächen muss man überlegen, ob wir noch neu pflanzen, damit möglichst schnell die nächste Waldgeneration nachkommt."
Langfristig planen und nachhaltig pflegen, das sind zwei der Eckpfeiler des Bergwaldprojekts, das sich den Erhalt der Wälder Deutschlands zum Ziel macht. Aber es geht auch darum, ins Bewusstsein zu rücken, welchen ökologischen und kulturellen Wert der Wald schafft. Der Ansatz, sagt Armin, helfe dabei, "die Verbindung von Mensch, Wald, Natur und Ressourcen" besser zu verstehen.
'Mit der Natur arbeiten'
Nachdem das Tagwerk vollbracht ist, kann jeder unter dem fließenden Wasser einer Gießkanne duschen. So erfrischt versammeln sich alle an einem langen Tisch unter einem gewaltigen Walnussbaum zum Abendessen. Es gibt ein Festmahl in Bio-Qualität, zubereitet von Chris' kundigen Händen, dem Koch diese Woche.
Gerade hier, in der entspannten Atmosphäre, würden viele der Freiwilligen beginnen, die Zusammenhänge zwischen Landnutzung, Ökosystem Wald, Klimawandel und ihre eigene Rolle in diesem Gefüge zu begreifen, sagt Chris.
"Die Menschen verstehen, dass ihr Leben eine Menge mit dem Wald zu tun hat und genauso, dass der Wald eine Menge mit ihrem Leben zu tun hat."
Mir fällt besonders ein Kommentar von Jonas auf, während ich den Gesprächen zuhöre. Er befindet sich gerade in der Ausbildung zum Förster. Ihn hätten die Erlebnisse als Mitarbeiter in einem großen Supermarkt ernüchtert, sagt er.
"Man hat gesehen, wie viele Lebensmittel täglich weggeschmissen werden, dass total viel Verpackung weggeschmissen wird und da macht man sich Gedanken", sagt Jonas. "Ich habe mir überlegt, was wirklich im Leben zählt und bin auf den Forst gekommen, weil hier alles auf einer nachhaltigen Schiene läuft, man arbeitet mit der Natur, nicht gegen die Natur."
"Mit" und nicht "gegen" - das ist eigentlich eine ganze einfache Bemerkung, aber die Wahrheit, die in ihr steckt, ist beängstigend. Dasselbe gilt für die kollektive Bereitschaft der Menschen, solche einfachen Realitäten zu ignorieren.
Nachts im Wald
Irgendwann geht der lange Sommertag zu Ende. Zeit, meine eigene Angst vor dem Wald zur Sprache zu bringen. Schließlich findet meine Reise auch deshalb statt, damit ich mich ihr stelle. Ich schlage also, etwas übermütig und eigentlich im Scherz, vor, dass ich wohl tatsächlich unter den Bäumen schlafen sollte und nicht unter dem Dach des einsamen, alten Hauses, wo auch meine Isomatte ausgebreitet liegt.
Selbst wenn ich nicht im Wald schlafe, wirft Chris ein, sollte ich zumindest in den Wald gehen, wenn es finster ist. Nicht um meine Ängste zu besiegen, sondern um die Magie der Natur bei Nacht zu erleben. Wenn die Glühwürmchen tanzen. Ich frage ihn, ob er mir den Weg zeigt.
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Wir sind noch gar nicht tief in den Wald gekommen, als schon etwas Leuchtendes vor uns davon flitzt. Dieser kleine Blitz ist der Beginn einer unvergesslichen Begegnung mit dem Wald.
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir auf unseren Blätterkissen sitzen und der Stille der Nacht zuhören. Und während in der Ferne ein Rehbock bellt, sehen wir den unzähligen, winzigen Glühwürmchen zu, die um uns herum tanzen. Manchmal kommen sie uns so nahe, also wollten sie uns ein Geheimnis zuflüstern. Ich weiß nicht mehr, wie lange das so ging, aber in diesem Moment hat mich der Wald in seinen Bann gezogen. Das hier ist ein ganz besonderes Märchen, eine lebendige Legende, ein verzauberter Wald, den ich nicht verlassen möchte.
Schließlich komme ich doch auf meiner Isomatte zur Ruhe. Ich denke an den Wald, als ich einschlafe, an das bunte Leben, das in ihm wimmelt, daran wie friedlich es ist, zwischen seinen Säulen -den Bäumen- zu sitzen.
Dieselben Gedanken habe ich noch, als ich ein paar Stunden später aufwache. Ich bin müde, aber ich stehe auf, ziehe mich an und gehe hinaus, als die Sonne noch nicht ganz aufgegangen ist. Es ist 5.30 Uhr morgens, und ich bin wieder im Wald. Alleine für mich. Und ich mag es irgendwie.