Wie Deutschland in Afghanistan versagt hat
8. Januar 2024Es ist eine Geschichte des Wegschauens, Ignorierens, die einer katastrophalen politischen Fehleinschätzung: Es geht um Afghanistan und Deutschland im Sommer 2021. Und es geht um die Frage, warum die deutsche Regierung die gewaltsame Machtübernahme der islamistischen Taliban in Afghanistan nicht hat kommen sehen. Und wieso sie sich nicht genug um die vielen tausend Ortskräfte gekümmert hat, die für die Bundeswehr in dem Land am Hindukusch Dienst taten.
Aufgeschrieben hat die Geschichte in der vergangenen Woche die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit". Die Journalisten erhielten Einblick in tausende Seiten Akten, in Vermerke, Morgenlagen, E-Mails von Bundesministern und Protokolle von Staatssekretärstreffen sowie dem Bundeskabinett selbst. Eigentlich streng geheime Unterlagen, die dem Blatt dennoch zugespielt wurden.
Damals, 2021, regierte in Deutschland noch eine Koalition aus CDU, CSU und SPD. Die Kanzlerin hieß Angela Merkel, die Bundestagswahl stand in wenigen Wochen bevor, der vergessene Krieg in Afghanistan war weit weg. Und die Aufmerksamkeit der Deutschen für die drohenden Veränderungen war entsprechend gering.
Die vergebliche Warnung der Botschafterin in den USA
Die "Zeit" listet auf: Die deutsche Botschafterin in den USA, Emily Haber, meldet am 6. August in die Heimat, die USA würden Afghanistan bald verlassen, die US-Amerikaner hielten das Ende der westlich unterstützen Regierung in Kabul für wahrscheinlich. Berlin reagiert zunächst gar nicht.
Erst eine Woche später, am 13. August, wird ein Krisentreffen hektisch vorgezogen. Zwei Tage später wird die Regierung von den Ereignissen schon eingeholt: Die Taliban erobern am 15. August die Hauptstadt Kabul. Und einen Tag später, am 16.August, richtet Deutschland endlich einen Krisenstab ein.
Scholz spricht in der DW, wenige Tage vor dem Fall Kabuls
Am 11. August ist der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz in der Deutschen Welle zu Gast. Der Sozialdemokrat ist Kanzlerkandidat seiner Partei für die Wahl im Herbst, die er am Ende gewinnen wird. Im DW-Interview wird er gefragt, warum denn Deutschland immer noch abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abschiebt, ob nicht die Lage dort längst viel zu bedrohlich sei.
Scholz sagt: "Deutschland ist ein Land, das viele Flüchtlinge aufgenommen hat, aber zu dieser Aufnahmebereitschaft gehört eben auch, dass jemand, der in Deutschland schwere Straftaten begangen hat, nicht damit rechnen kann, dass er hierbleiben kann." Zur Lage in Afghanistan selbst sagt Scholz nichts.
Auf Nachfrage, dass die Botschafter vieler EU-Staaten solche Abschiebungen nicht mehr für richtig hielten, sagt er: "Es gibt dazu ein richtiges Verfahren, dass nicht durch den Zuruf von Meinungen erfolgt, sondern damit, dass man sagt, wir überprüfen die Situation, übrigens auch mit vielen Informationen über die Lage vor Ort. Und genau diese Verfahren finden regelmäßig statt, auch in Sachen Afghanistan."
Der Bericht der "Zeit" macht deutlich, weshalb die deutsche Regierung damals offenbar nicht über die wirkliche Lage in Afghanistan informiert war. Die deutsche Regierung befragte den Bundesnachrichtendienst (BND) demnach, wann denn die Taliban ein Emirat errichten könnten. Noch am 3. August habe der deutsche Auslandsnachrichtendienst mitgeteilt: "Nach hiesiger Bewertung ist dies … ein frühestens in zwei Jahren wahrscheinliches Szenario." Zwei Wochen später ist das Land in der Hand der Islamisten.
Die zögerliche Rettung der Ortskräfte
Mitte August haben längst andere Länder, die USA, Großbritannien, die Niederlande oder Dänemark mit der Evakuierung ihrer Staatsbürger und der afghanischen Ortskräfte begonnen, Berlin aber nicht. Erst am 16. August beginnt die deutsche Rettungsaktion. Bundeswehrsoldaten liefern sich am Flughafen von Kabul über zehn Tage lang heftige Feuergefechte mit den Taliban, um möglichst vielen Menschen den Flug nach Deutschland zu ermöglichen.
Heute, fast zweieinhalb Jahre später, sieht Roderich Kiesewetter, Außen - und Sicherheitsexperte der CDU im Deutschen Bundestag, Afghanistan als ein Sinnbild einer Außenpolitik ohne Entschlossenheit und Stärke. Er sagt der DW: "Der Artikel der 'Zeit' zeigt im Prinzip die strategische Blindheit deutscher Sicherheitspolitik, die Warnungen ignoriert, Verantwortungsübernahme durch Zuständigkeitsstreitigkeiten zu umgehen sucht und durch Unterlassen rechtzeitiger, proaktiver Maßnahmen selbst zur humanitären Katastrophe beiträgt."
Keine Debatte über Geflüchtete in Wahlkampfzeiten
Heute beschäftigt sich auch ein Untersuchungsausschuss des Bundestages vor allem mit der zögerlichen Aufnahme der afghanischen Ortskräfte in Deutschland. Die "Zeit" berichtet, ein Vermerk des Kanzleramts zitiere den damaligen Innenminister der CSU, Horst Seehofer, mit den Worten: "In den nächsten Wochen darf keine große Flüchtlingsdiskussion losgetreten werden."
Die Aufnahme von Flüchtlingen ist ein schlechtes Thema in Wahlkampfzeiten. Einzig die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer von der CDU plädiert schon früh dafür, die Ortskräfte großzügig aufzunehmen, wenn die Regierung in Kabul kollabiert. Erstmals tut Kramp-Karrenbauer das bereits im Dezember 2020, danach immer wieder.
Offiziell - so die "Zeit"- wurden per Luftbrücke rund 5340 Menschen ausgeflogen, unter ihnen ganze 216 Ortskräfte. Menschen, die durch ihre jahrelange Tätigkeit für die Deutschen naturgemäß den Hass der Taliban auf sich ziehen. Rund 12.000 von ihnen, so das Magazin, warten immer noch auf eine Ausreise nach Deutschland.
Heute fast kein deutscher Einfluss in Afghanistan mehr
Heute sind die Möglichkeiten der Regierung, etwas für die Menschen in Afghanistan zu tun, denkbar gering. Roderich Kiesewetter sagt der DW: "Weiterhin haben wir jedoch eine politische Verantwortung für die Ortskräfte und ihre Familien, die auf die Ausreise warten. Zudem haben wir eine moralische Verantwortung für die afghanische Zivilbevölkerung. Insbesondere die Frauen, die unter dem sozioökonomischen, wie wirtschaftlichen Desaster leiden. Über 17 Millionen afghanische Bürger sind von akutem Hunger bedroht, über sechs Millionen sind vom Nahrungsmittelnotstand betroffen."
Am 16. November 2001 beschloss der Bundestag, noch unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September in den USA, sich dem Anti-Terror-Kampf in Afghanistan anzuschließen. Das Mandat der Bundeswehr ging Anfang 2015 in eine Ausbildungsmission für die afghanische Armee über. 53 deutsche Soldaten fielen in den Jahren dazwischen in dem Land am Hindukusch.
Roderich Kiesewetter zieht heute ein ernüchterndes Fazit: "Eine deutsche Rolle ist in Afghanistan quasi nicht mehr vorhanden, weil die Taliban-Regierung nicht anerkannt wird, wodurch humanitäre Hilfe oder wirtschaftliche Zusammenarbeit im Prinzip nicht möglich ist." Damals, 2001, wollte Deutschland den Afghanen Demokratie und Freiheit bringen, mehr als 20 Jahre später ist davon so gut wie nichts übrig.