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Noch nicht einmal ein blaues Auge

Sabine Kinkartz22. September 2013

Die Wirtschaft wächst. Der Arbeitsmarkt ist solide. Deutschland hat die Krise längst hinter sich gelassen. Diesen Erfolg reklamierten Regierung und Opposition im Wahlkampf jeweils für sich.

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Schrift mit 'made in germany' (Foto: DW)
Bild: Fotolia/Goss Vitalij

"Danke für das, was Sie für unser Land machen. Danke für das, was Sie in Europa machen", sagte Angela Merkel vor Unternehmern im Juni dieses Jahres. Wie immer ließ sie es sich nicht nehmen, selbst beim "Tag der Deutschen Industrie" zu den Managern zu sprechen. Denn die deutsche Industrie trägt wesentlichen Anteil daran, dass es Deutschland auch in Krisenzeiten vergleichsweise gut geht. Davon wollen Regierung wie Opposition im Wahlkampf profitieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht am 11.06.2013 auf dem Tag der Deutschen Industrie in Berlin. Foto: Tim Brakemeier/dpa
Dank an die Wirtschaft: Die Bundeskanzlerin beim BDIBild: picture-alliance/dpa

Ein Viertel der gesamtwirtschaftlichen Leistung in Deutschland geht auf das Konto der Industrie. Die vom "Bundesverband der Deutschen Industrie" (BDI) vertretenen Unternehmen beschäftigen mehr als acht Millionen Menschen in Deutschland. Entsprechend selbstbewusst bezeichnet BDI-Präsident UIrich Grillo seine Branche gerne auch als "Jobmaschine".

Deutsche Produkte weltweit gefragt

Keine andere Industrienation der Welt verfügt über einen so ausgeprägten Mittelstand mit so vielen erfolgreichen Familienunternehmen wie Deutschland. Zum Mittelstand zählen in Deutschland Unternehmen mit maximal 500 Mitarbeitern. Vier von fünf deutschen Industrieunternehmen befinden sich in Familienbesitz.

Was in Deutschland produziert wird, ist auch heute noch weltweit gefragt, vor allem auch in den boomenden Schwellenländern: Autos, Maschinen und Chemie. Drei Viertel aller deutschen Exporte kommen aus dem verarbeitenden Gewerbe, das höchst innovativ ist. 90 Prozent aller Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Deutschland entfallen auf Industrieunternehmen. Andere Industrieländer in Europa kommen durchschnittlich auf gerade einmal 70 Prozent.

"Deutschland ist geworden, was es heute ist, weil dieses Land seit über 150 Jahren die Weichen Richtung Industrie gestellt hat. Sie ist und bleibt das wichtigste Fundament der deutschen Wirtschaft." Schwach sei der europäische Kontinent da, wo die Industrie keine große Rolle spiele. "Eine schwache Industrie bedeutet dramatische Arbeitslosenquoten und Destabilisierung der Gesellschaft", so Grillo. Tatsächlich hat Deutschland im europäischen Vergleich den größten Industriesektor.

Der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (l) unterhält sich am 11.06.2013 beim Tag der Deutschen Industrie in Berlin mit Ulrich Grillo (r), dem Präsidenten des Bundes der Deutschen Industrie (BDI). Foto: Tim Brakemeier/dpa
SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mit BDI-Präsident GrilloBild: picture-alliance/dpa

Massiver Absturz, schneller Aufstieg

Im Zuge der Finanzkrise brach die Konjunktur zwar auch in Deutschland 2009 um fünf Prozent ein. Nur zwei Jahre später war aber das Vorkrisenniveau wieder erreicht. Keine Selbstverständlichkeit, denn noch zur Jahrtausendwende galt Deutschland als der kranke Mann Europas. Im Jahr 1998 hatten SPD und Grüne die Regierung übernommen und stießen die Reform Agenda 2010 an. Der Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme wurden umgekrempelt. 2007 führte eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD diesen Kurs weiter mit der Rente ab dem 67. statt des 65. Lebensjahrs. "Wir stehen heute auch deshalb so gut da, weil wir Arbeitsmarktreformen und Reformen in den sozialen Sicherungssystemen durchgeführt haben", stellt Kanzlerin Merkel fest. Der Sozialexperte Bert Rürup ergänzt: "Unser Land hat sich in den letzten zehn Jahren wirtschaftlich neu erfunden."

Die Zahlen scheinen ihm Recht zu geben: Bei den Arbeitslosenzahlen kann Deutschland im europäischen Vergleich nach Österreich die niedrigsten Quoten vorlegen (5,3 Prozent im Mai 2013). Und auch beim Wachstum steht Deutschland gut da. Die Europäische Kommission rechnet in ihrer Frühjahrsprognose für die EU mit einem Rückgang von 0,1 Prozent, in Deutschland erwartet sie dagegen einen Zuwachs von 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Finanzspritzen in der Krise

Trotzdem: Seit dem Ausbruch der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise hat der politische Reformeifer in Deutschland merklich nachgelassen. Stattdessen ging es in den Jahren der Krise nur noch um akute Schadensbegrenzung. Doch auch die trugen dazu bei, dass Deutschland mit einem blauen Auge durch die Krise kam. Mit Konjunkturprogrammen wurde die Wirtschaft unterstützt und angeschlagenen Unternehmen das Überleben erleichtert.

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SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück legt dabei großen Wert auf die Feststellung, dass es die Sozialdemokraten in der Regierungskoalition mit CDU/CSU gewesen seien, die für finanzielle Unterstützung gesorgt hätten. Auch das kommunale Investitionsprogramm für die Erneuerung der Infrastruktur und die Regelung zur Kurzarbeit seien von der SPD initiiert worden, so Steinbrück. Bis zu 18 Monate lang sprang die Bundesagentur für Arbeit finanziell ein, damit ein Unternehmen seine Arbeitskräfte nicht entlassen musste. Als sich die Auftragsbücher wieder füllten, konnte die Produktion sofort wieder anlaufen. Ohne gut ausgebildete Fachkräfte wäre das nicht möglich gewesen. Bisher profitiert die Opposition allerdings nicht von diesen Initiativen. Die gute wirtschaftliche Lage wird in der Bevölkerung meist Merkel zugeschrieben.

Blick in die Zukunft

Doch wie geht es weiter in Deutschland? Das kommt ganz auf die einzelne Perspektive an. Fragte man in den neunziger Jahren einen Unternehmer nach den drängendsten Problemen, dann nannte er die Lohnkosten, die Steuerbelastung und die Bürokratie. 2013 ist das Thema Bürokratie geblieben. Über Löhne und Steuern wird weitaus seltener gesprochen – Steinbrück fordert einen flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland, Merkel lehnt das ab. Der Facharbeitermangel und die Energie- und Rohstoffpreise sind dagegen in den Vordergrund gerückt. Aus der Perspektive der Politik gewichten sich die Probleme ähnlich – allerdings als Wahlkampfthema taugen sie offensichtlich nicht.

An der JAGD auf FACHKRAEFTE beteiligen sich aus gehobener Position auf der Plattform eines Hubwagens Bundesarbeitsministerin Ursula von der LEYEN, Bundeswirtschaftsministetr Philipp ROESLER ( links neben v.d. Leyen) und der Vorstandsvorsitzende der Agentur fuer Arbeit, Frank-Juergen WEISE, rechts; die Aktion mit dem Riesenposter an der Front der Komischen Oper Unter den Linden sowie unterstuetzende Internetportale sollen helfen, den bis 2020 bestehenden Mangel an Fachpersonal von ca. 3 Millionen in den Griff zu bekommen am 05.06.2012 in Berlin.
Werben für Deutschland: Ohne ausländische Fachkräfte geht es nichtBild: picture-alliance/dpa

Für die Bürger und Wähler ist zudem das Thema Gerechtigkeit von großer Bedeutung. Viele Milliarden musste der Steuerzahler in der Krise für die Rettung der Banken aufbringen. 80 Prozent der zusätzlich aufgenommenen Staatsschulden flossen in die Sanierung des Finanzsektors. Geld, das dem Bürger verloren ging, das nicht für Bildung und Infrastruktur verwendet werden konnte. Wer sich in Städten und Gemeinden umsieht, der muss nicht lange suchen, um kaputte Straßen und marode Schulgebäude zu finden.

Wahlkampfthema Gerechtigkeit

Auch im Arbeitsleben mehren sich die Klagen über mangelnde Gerechtigkeit. Die Schere bei Löhnen und Gehältern geht immer weiter auseinander. Nach einer Studie des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit (IAB) zählt jeder vierte Beschäftigte in Deutschland inzwischen zu den Geringverdienern. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen von einem Job nicht mehr leben können. Se haben entweder mehrere Jobs oder bekommen staatliche Unterstützung. Viele Bürger sind der Ansicht, die Unternehmen müssten so viel bezahlen, dass jeder von einer Vollzeitbeschäftigung leben kann.

Ein Mitarbeiter des Online-Versandzentrums von Amazon in Deutschland mit einem Streikbanner. Foto: REUTERS/Lisi Niesner (GERMANY - Tags: BUSINESS EMPLOYMENT CIVIL UNREST)
Höhere Löhne gefordert: Mitarbeiter eines deutschen Versandzentrums des Onlinehändlers Amazon im AusstandBild: Reuters/Lisi Niesner

"Die Unternehmen sollten sich durchaus Gedanken darüber machen, ob sie den sozialen Frieden und damit ihren weltweit guten Ruf als verlässlicher Exportpartner und Lieferant riskieren wollen", mahnt daher SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück.

Neuer Reformeifer?

Die Wirtschaft vernimmt die Mahnungen durchaus, BDI-Präsident Grillo entgegnet aber, dass mehr Gerechtigkeit ohne wirtschaftlichen Erfolg nicht zu schaffen sei. Dafür müssten neue strukturelle Reformen auf den Weg gebracht werden. Wenn in den Bereichen Bildung, Infrastruktur und Netzausbau nicht massiv investiert werde, wenn der Kostenfaktor in der Energiewende nicht ernst genommen werde, dann werde sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland deutlich verringern. "Deutschland ist Vorbild in Europa. Das können wir nur weiterhin sein und bleiben, wenn auch bei uns die Weichen richtig gestellt werden!"