Wie Deutschland den "guten Hacker" entdeckte
30. Dezember 2011Der Sparkassendirektor reagierte mit Milde: "Alle Hochachtung vor der Tüchtigkeit dieser Leute", würdigte Benno Schölermann die Hacker vom Chaos Computer Club (CCC). Das war 1984 und die Hacker hatten seine Bank gerade in einer einzigen Nacht um 135.000 D-Mark erleichtert, umgerechnet rund 70.000 Euro. Die beiden Computerfreaks Wau Holland und Steffen Wernery hatten das Datennetz Bildschirmtext (BTX) der Deutschen Bundespost überlistet. Sie erbeuteten das Passwort der Hamburger Sparkasse (HASPA) und besuchten mit diesem ihre eigene und vor allem kostenpflichtige Seite. Für jeden Aufruf wurden 9,99 D-Mark fällig. Am nächsten Tag überwiesen sie das erbeutete Geld zurück. Der Ruf der Post und ihres BTX-Systems war beschädigt, die Hacker wurden über Nacht berühmt.
Der Große Bruder IBM
Deutschland war in den 1980er Jahren ein technikskeptisches Land. Aus einer Massenbewegung gegen die Kernenergie war die grüne Partei entstanden, die 1983 zum ersten Mal in den Bundestag einzog. Dass mit der Informationstechnologie plötzlich Datenauswertung im großen Stil möglich wurde, beflügelte düstere Visionen. "George Orwell, scheint es, hat sich verrechnet", schrieb der Spiegel im Jahr 1986. Nicht 1984, sondern 1994 wird das Jahr des Großen Bruders. 'Big Blue' ist sein Name: IBM." Entsprechend fruchtbar war damals der Boden für die CCC-Pioniere Holland und Wernery.
Der "BTX-Hack" wurde zu einem der Gründungsmythen des Chaos Computer Clubs. Die Warnungen vor der Technik kamen plötzlich von Menschen, die sich mit dieser Technik offensichtlich hervorragend auskannten. Die "Robin Hoods im Datennetz", wie Holland die Gruppe unbescheiden nannte, wurden in den deutschen Abendnachrichten interviewt, die Zeitungen berichteten wohlwollend. Für die deutsche Öffentlichkeit war das Bild des ehrlichen Hackers geboren, der sich mit den Mächtigen anlegt. "Ein solcher Schlag gegen ein Computersystem vermittelt einen köstlichen Triumph, der den finanziellen Vorteil, der manchmal damit verbunden ist, weit überwiegt. Ein Befreiungsschlag ist es, der uns für ein paar Augenblicke der Apparateherrschaft entwindet", schwärmte die Wochenzeitung "Die Zeit". Der Bildschirmtext BTX setzte sich in Deutschland nie durch - anders als in Frankreich, wo das technisch ähnliche System Minitel ein Verkaufsschlager wurde.
Das Bild des "guten Hackers"
Die Hacker genossen Sympathien bis in den Deutschen Bundestag. Der versuchte gerade, die Gesetzgebung an die neuen technischen Möglichkeiten anzupassen. "In den Beratungen fingen die Politiker plötzlich an, sich auf den BTX-Hack zu beziehen und das Bild des 'guten Hackers' zu entwickeln", sagt der Historiker Kai Denker, der die Geschichte der deutschen Hackerszene erforscht. Tatsächlich findet sich in den Beratungsprotokollen die Forderung "gute Hacker und junge Computerenthusiasten" vor Strafverfolgung zu schützen. Der Gesetzentwurf, der ursprünglich jedes Eindringen in passwortgeschützte Systeme unter Strafe stellen sollte, wurde abgeändert. Das bloße Eindringen in fremde Computer ist seitdem straffrei, solange keine Daten abgegriffen werden - in der Praxis eine ziemlich unpraktikable Lösung.
Vom damaligen Bild des "guten Hackers" zehrt die deutsche Hackerszene bis heute. Immer wieder gelang es dem CCC in den letzten Jahren, den Staat vorzuführen. Im Herbst dieses Jahres entschlüsselten CCC-Hacker den sogenannten Bundestrojaner, ein Spionageprogramm, mit dem die deutschen Behörden die Computer Verdächtiger ausspähen. Die Recherchen des CCC ergaben, dass das Programm mehr kann, als das Bundesverfassungsgericht erlaubt hatte. Polizei und Innenminister standen blamiert da, reagierten aber ziemlich kleinlaut. Denn für die deutsche Öffentlichkeit sind die Hacker inzwischen zu einer Instanz geworden.
"Der Chaos Computer Club ist sicherlich ein deutscher Sonderfall", sagt Denker. Auf dem Jahrestreffen des CCC, das in diesen Tagen (27.-30.12.2011) wieder in Berlin stattfindet, tummeln sich nicht nur die Medien, die sich Kommentare zur Internetpolitik der Regierung in die Mikrofone sprechen lassen. Auch der Deutsche Bundestag und das Bundesverfassungsgericht schätzen inzwischen die Expertise der Computernerds. Dass das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, mit dem Polizei und Geheimdienste bis zu einem halben Jahr lang sämtliche Telekommunikationskontakte in Deutschland hätten nachvollziehen können, vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde, lässt sich auch auf die Gutachten des CCC zurückführen.
"Private Daten schützen"
Dabei hätte von vornherein alles auch ganz anders laufen können. "Hätte die Hamburger Sparkasse Holland und Wernery verklagt, wären die Reaktionen der Presse sicherlich anders ausgefallen", sagt Denker. Denn dass jemand sich die Fähigkeit aneignet, in fremde Computersysteme einzudringen, bereitet damals wie heute den meisten Menschen Unbehagen. Schließlich gibt es nicht nur kriminelle Netzwerke, die mit solchen Fähigkeiten Schaden anrichten.
Auch aus der politischen Hackerszene kommen manchmal Angriffe, die ganz und gar nicht die Billigung der Öffentlichkeit finden. Zuletzt hackten Aktivisten, die sich der Gruppe Anonymous zurechnen, an den Weihnachtsfeiertagen die Kundenliste des amerikanischen Think-Tanks Stratfor und überwiesen offenbar mehrere Hunderttausend Euro von deren Kreditkartenkonten an wohltätige Organisationen. "Das widerspricht ganz klar der Hackerethik, die sich der CCC gegeben hat", sagt Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Club. "Die sagt ganz klar: Öffentliche Daten nutzen und private Daten schützen".
Anonymous ist in der Hackerszene so etwas wie der Gegenentwurf zum Chaos Computer Club. Der CCC ist seit den 80er-Jahren ein eingetragener Verein. Die Ansprechpartner sind bekannt, die Ziele sind auf der Homepage nachzulesen, ebenso die Regeln der Hackerethik, die von allgemeinen Phrasen wie "Man kann mit Computern Kunst und Schönheit schaffen" bis zu Verboten wie "Mülle nicht in den Daten anderer" reichen. Anonymous dagegen ist keine klar definierte Gruppe.
Im Namen von Anonymous wurde ebenso einem mexikanischen Drogenkartell der Krieg erklärt, wie Kreditkartenfirmen, die die Konten der Enthüllungsplattform Wikileaks gesperrt hatten. Wer sich mit dem Kampf der Gruppe gegen die Mächtigen identifiziert, kann sich Anonymous nennen. Im Netz tauchten nach dem weihnachtlichen Kreditkartendiebstahl sowohl Anonymous-Gruppen auf, die sich dazu bekannten, wie auch solche, die sich davon distanzierten.
An Anonymous-Aktionen beteiligt
Auch auf der Jahrestagung des CCC ist die Maske, hinter der sich Anonymous-Aktivisten auf Fotos verstecken, ein Renner. Anonymous-Bilder an überraschenden Stellen sorgen in den Präsentationen garantiert für Lacher im Publikum. Und im zweiten Stock des noblen Berliner Kongresszentrums, wo die Versammlung stattfindet, kann man zusehen, wie aus weißen Plastikplatten das spitze Gesicht mit dem gezwirbelten Schnurrbart zur Maske geschmolzen wird. "Wir gehen davon aus, dass es auch CCC-Mitglieder gibt, die sich an Anonymous-Aktionen beteiligt haben", räumt Constanze Kurz ein. Schließlich stünden auch nicht alle Aktionen im Widerspruch zu den Regeln des CCC. Bei aller öffentlichen Anerkennung: Zum Hacker-Lebensgefühl gehört eben auch die Subversion.
Autor: Mathias Bölinger
Redaktion: Matthias von Hein