Dicke Kinder in den Zeiten von Corona
18. April 2020Die Eltern arbeiten vielleicht von zuhause, die Kinder gehen nicht zur Schule. Die Familienmitglieder sind sich über eine lange Zeit und tagtäglich viel näher als sonst. "Manche Eltern bekommen jetzt überhaupt mal mit, wie viel ihr Kind jeden Tag isst. Bei einigen von ihnen entsteht sogar das erschreckende Gefühl, ihr Kind sei nur noch am Essen", sagt Thomas Huber von der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen. Die Einrichtung ist auf Essstörungen spezialisiert.
Hamsterkäufe und Essen im Überfluss
In den Zeiten von Corona gerät das Leben in vielen Familien außer Kontrolle, das der Kinder und das der Eltern. Die Angst vor Nahrungsmittelknappheit hat zu Hamsterkäufen geführt.
Im Vorratsschrank gibt es wesentlich mehr Lebensmittel als vor Corona, und dabei geht es nicht nur um Nudeln, Reis und Fertiggerichte. Auch Verderbliches wie Obst und Gemüse haben viele in Massen eingekauft - eigentlich doch gesunde Lebensmittel. "Es kommt nicht so sehr darauf an, was Kinder essen, sondern eher wie viel", sagt Huber. Für manche sei Essen eine Art Bewältigungsstrategie, ein Weg, mit der ungewöhnlichen und bedrohlichen Situation klarzukommen.
Wenn die Eltern am Ende sind
Die Eltern versuchen, sich im Home-Office zu konzentrieren, aber die Kinder nörgeln, sind gelangweilt, ungeduldig. Da ist es manchmal eben das Einfachste, eine Pizza aufzutauen oder den Burger vom Drive-in zu holen. Gerade wenn Kinder ohnehin Gewichtsprobleme haben, ist das schwierig.
Es gebe durchaus Familien, in denen sich die Situation zuspitze, weiß Huber. "Vielleicht merken die Eltern erst in einer Ausnahmesituation wie der Corona-Pandemie, dass ihr Kind eine ernsthafte Essstörung hat. Viele fühlen sich überfordert, wissen nicht, wie sie dem Problem begegnen können."
Lebensmittel einfach wegzusperren, scheint keine gute Lösung, eher wohl miteinander reden und zuhören. So funktionieren auch die meisten professionellen Therapien für Übergewichtige.
"Übergewichtige Kinder und Jugendliche leiden besonders unter der jetzigen Situation", sagt Huber. "Es ist eine beunruhigende Zeit. Wir bemühen uns, den jungen Patienten so viel Sicherheit wie möglich zu geben." Aber es ist derzeit eben nicht immer machbar, die Kinder und Jugendlichen persönlich zu treffen, um ihnen Hilfestellung zu bieten. Die Charité in Berlin versucht, dieses Problem durch Telefonsprechstunden zu lösen.
Gutes wird besser, Schlechtes wird schlechter
Die Beratungen über das Telefon, die die Charité anbietet, würden gut und dankbar angenommen, sagt Susanna Wiegand von der Kinderklinik an der Charité in Berlin. Es gebe einige recht positive Aspekte dabei. "Wir erleben eine interessante Atmosphäre. Bei den Telefongesprächen mit unseren jungen Patienten ist es fast so als besuche man sie zuhause, denn sie sind in ihren eigenen vier Wänden."
Einige Familien kommen sehr gut mit der Corona-Situation klar, sehen hierin auch eine Chance für ihr Miteinander. Sie schaffen sich einen festen Tagesablauf, essen regelmäßig zusammen. "Das sind meist Familien, die schon gewisse, gesunde Strukturen gehabt haben", sagt Wiegand. "Da ist es für alle positiv, dass sie mehr Zeit miteinander verbringen können. Dazu gehören eben auch gemeinsame Mahlzeiten oder gemeinsames Kochen." Das wiederum hilft den übergewichtigen Kindern und Jugendlichen, ihr Selbstvertrauen zu stärken.
Schwieriger ist die Situation für Familien, in denen es schon vor Corona keine eindeutigen Strukturen gab. Jetzt kommen außergewöhnlichen Umstände hinzu. Morgens früh aufstehen, um in die Schule zu gehen? Sich beeilen, um den Bus nicht zu verpassen? Das fehlt, die Familie muss sich neu erfinden.
"Familien, in denen es vor Corona keine festen Strukturen gab und bei denen das Zusammenspiel der einzelnen Familienmitglieder schlecht war, bei denen ist es jetzt meist noch schlechter", so Wiegands Erfahrung.
Keine Sperrstunde
Die sozialen Medien spielen jetzt eine noch größere Rolle als ohnehin. Sie dienen mehr als zuvor als Ersatz für direkte soziale Kontakte. Vor dem Computer sitzen und ganz nebenbei immer wieder etwas essen, da ist es schwierig nachzuvollziehen, wie viel Schokolade oder Cola die Kinder schon konsumiert, wie oft sie in die Chips-Tüte gegriffen haben.
Viele Kinder sitzen wesentlich länger vor dem Fernseher und gehen später ins Bett. "Der Schlaf- Wachrhythmus ist gestört. Darunter leiden dann auch die Essgewohnheiten, und das kann zu einem großen Konfliktpotential werden", sagt Wiegand.
Es gibt keine festen Essenszeiten, die Kinder und auch die Erwachsenen, essen über den Tag verteilt immer wieder Kleinigkeiten oder Süßes. In Kombination mit wenig oder gar keiner Bewegung, die die Kalorienzufuhr ein bisschen auffängt, lässt das leicht die Pfunde wachsen.
Deutschlands dicke Kinder
Laut Bundesgesundheitsministeriums (BMG) sind 8,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren in Deutschland übergewichtig. Bei 6,3 Prozent in Deutschland ist es noch dramatischer: Sie sind adipös, leiden also an starkem Übergewicht (Stand: September 2019).
Schon als Kinder haben sie im schlimmsten Fall gesundheitliche Probleme, die dann auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben. Dazu gehören beispielsweise Herz- Kreislauferkrankungen oder Gelenkprobleme. Auch Depressionen können eine Folge sein.
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Schokolade statt Sport
"Wir muten unserer Jugend zurzeit eine ganze Menge zu", sagt Huber. Für alle ist die Situation ungewohnt. Soziale Kontakte entfallen. Die sind gerade bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen wichtig, denn sie können als eine Art sozialer Kontrolle dienen. Gibt es die nicht, kann das zu hemmungslosem Essen führen, ohne jegliche Grenzen.
Kein Schulsport, Sportvereine, Schwimmbäder, Spielplätze sind geschlossen, die Bewegung fehlt. Der Schwund von Muskelmasse verläuft wesentlich schneller als der Aufbau. Kein Sport und stattdessen stundenlang vor dem Computer oder dem Fernseher hocken, ist bekanntermaßen äußerst ungesund. Der Körper kann es einigermaßen verkraften, wenn das nicht mehr als etwa zwei Stunden am Tag dauert. Dann beginnt der kritische Bereich.
Besteht also die Gefahr, dass es schon bald wegen anderer Lebensweisen in Zeiten von Corona mehr Kinder und Jugendliche mit Übergewicht geben wird? "Nein", sagt Huber. "Bis sich Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen manifestiert, dauert es meist Monate, wenn nicht sogar Jahre". Hoffentlich hat er Recht