Wie Corona den Brexit infizierte
20. April 2020Corona macht auch vor dem Brexit nicht Halt. EU-Unterhändler Michel Barnier wie sein britischer Gesprächspartner David Frost hatten sich gleich im März angsteckt und brauchten Zeit zur Genesung. Die Regierung in London verstand dies aber nicht als Wink des Himmels, sondern forderte die Fortsetzung der Gespräche. An diesem Montag begann also die zweite Verhandlungsrunde: "Wir müssen in allen Bereichen Fortschritte machen", schrieb Barnier dazu auf Twitter. Ziel sei es, bis Juni greifbaren Fortschritt zu erzielen - das heißt, es bleibt enorm viel Arbeit.
Jetzt wird weiter verhandelt
Zuletzt hatten sich Barnier und sein britischer Kollege Anfang März zur Auftaktrunde getroffen. Danach stellte der Franzose "ernsthafte Differenzen" zwischen beiden Seiten fest. Wegen Corona aber fielen Runde zwei und drei aus und es passierte wochenlang nichts, so dass diese Differenzen nun im Eiltempo überbrückt werden müssen. Bis Ende der Woche sollen per Videokonferenz im Schnitt fünf Expertengruppen pro Tag parallel verhandeln. Ziel ist ein Freihandelsabkommen mit Nebenvereinbarungen, weil Premier Boris Johnson weiterhin nur ein lockeres Verhältnis zu EU will.
Gesprochen wird unter anderem über Handel, Dienstleistungen, Energie, Transport und Fischerei. Dabei ist das strittigste Thema das sogenannte "level playing field", weil die EU von Großbritannien die Anerkennung von Regeln verlangt, um gleiche Bedingungen für die Wirtschaft auf beiden Seiten zu garantieren. Diplomaten fürchten, dass dabei die virtuellen Konferenzen an ihre Grenzen kommen, wenn neben den technischen Differenzen politische Entscheidungen nötig werden.
Auch könnte es für die EU zum Problem werden, ihre Einigkeit zu wahren, weil Barnier nicht herum reisen und die Hauptstädte über den Fortschritt informieren kann. Auf dieses Problem wies ein interner Brief des deutschen EU-Vertreters in Brüssel hin, der in der Osterpause öffentlich wurde. Auch sei es schwieriger, Zwischentöne und Empfindlichkeiten zu verstehen, wenn man nicht im selben Raum ist.
Das größte Problem aber ist der Zeitdruck: Bis Ende Juni soll der Fortschritt der Gespräche bewertet und eine eventuelle Bitte um Verlängerung gestellt werden, denn am 31.12.2020 endet die sogenannte Übergangszeit. Bis Juni sind insgesamt drei Verhandlungsrunden geplant - es ist quasi unmöglich, innerhalb so weniger Wochen am Bildschirm die tiefen Differenzen zu überbrücken, sagen Diplomaten.
Rufe nach Verlängerung
Zuletzt hatte die Chefin des Internationalen Währungsfonds Kristalina Georgieva aufgerufen, die Brexit-Übergangszeit vorsorglich zu verlängern. Man sollte sich das Leben nicht noch schwerer machen und an der harten Frist festhalten, denn durch Corona durchlebten alle Länder eine "Periode nie gekannter Unsicherheit". Aber ihre Bitte verhallte ebenso wie die der Christdemokraten im Europaparlament: "Stellt Vernunft und Substanz über Ideologie", baten sie die britische Regierung. Und der Brexit-Beauftragte David McAllister fügte hinzu, ein bereits "ehrgeiziger Zeitplan" werde durch die Pandemie weiter kompliziert.
Auch in Großbritannien mehren sich die Stimmen für eine Verlängerung. Am Montag forderte die schottische Regierung, die Brexit-Übergangszeit um zwei Jahre bis Ende 2022 zu verlängern, um Zeit zu gewinnen und das künftige Verhältnis zur EU zu überdenken. Auch ein Leitartikel in der konservativen Zeitung "The Times" fordert eine Abkehr vom bisherigen "Brexit-Dogma": "Wenn wir Glück haben (…), wird die Wirtschaft Ende des Jahres aus dem Corona-Tal kriechen". Unternehmen könnten sich bis dahin aber nicht mit dem Brexit beschäftigen. "Es wäre der Gipfel der Unverantwortlichkeit, ihnen (zu diesem Zeitpunkt) einen abrupten Wechsel im Verhältnis mit der EU zuzumuten".
Umfragen zeigen darüber hinaus, dass zwei Drittel aller britischen Wähler für eine Verlängerung der Übergangszeit sind und sogar knapp die Hälfte der Brexit-Befürworter glauben, man brauche mehr Zeit.
London hat sich eingemauert
"Die öffentliche Meinung wird die Regierung nicht dazu bringen, ihre Meinung zu ändern", sagt dagegen Prof. Anand Menon vom Kings College in London und alle Zwischenrufe von außerhalb hält er für fruchtlos. Das einzige, was Boris Johnson dazu bringen könnte seine harte Haltung zum Brexit zu ändern, wäre ein schneller Einbruch bei den Wirtschaftsdaten. Bis dahin aber gehe der Premier weiter davon aus, dass er liefern müsse was er versprochen hatte, nämlich den Brexit umzusetzen.
Die Idee dahinter sei, am Ende des Jahres alles zusammen in einen Topf zu werfen, die wirtschaftlichen Folgen von Corona und vom Brexit. Dann werde es quasi unmöglich sein auseinanderzuhalten, welche negativen Konsequenzen welche Ursache hätten. Statt also die Addition beider Krisen zu fürchten, scheinen Teile der britischen Konservativen darin eine Chance zu sehen, sie zu verschmelzen und in der Corona-Krise den Brexit zu verstecken.
Menon glaubt dabei nicht, dass London jetzt mit der EU versucht zu pokern, um von ihr Zugeständnisse zu erpressen: "Das hat bei Theresa May nicht funktioniert, ich glaube nicht, dass sie jetzt noch einmal den gleichen Fehler machen." Durch die harten und unzweideutigen Worte, mit denen die Regierung eine Bitte um Brexit-Verlängerung abgelehnt hat, habe sie sich quasi eingemauert. Und bisher gebe es bei den Tories kaum internen Widerstand zu diesem Thema.
Keine Zeit für vorschnelle Zugeständnisse
"Corona ist ein unglaublicher Schock und wird die Wirtschaft auf eine Talfahrt schicken", sagt die Ökonomin Maria Demertzis vom Bruegel Institut in Brüssel. Dennoch müsse allein die britische Regierung entscheiden, wie es mit dem Brexit weiter gehen soll. Die EU müsse sich dabei raus halten und einfach nach den bisherigen Leitlinien weiter verhandeln.
"Die EU muss praktisch denken, alles andere würde zurückschlagen", sagt Demertzis, denn nach wie vor sei Ziel ein Abkommen mit den Briten, bei dem beide Seiten gewinnen. "Wir sollten so kooperativ wie möglich sein", aber andererseits sei dies auch nicht der Zeitpunkt für die EU, größere Zugeständnisse zu machen. Wenn am Ende der Brexit-Gespräche nicht ein gut balanciertes Abkommen zwischen beiden Seiten steht, dann würde die EU "sich selbst in den Fuß schießen".
Aber ist das in den nächsten Wochen bis Juni möglich? Egal wie man den Zeitdruck bewertet, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin, die beste Empfehlung für die Europäer sei, den Briten zuzuhören, kein böses Blut bei den Gesprächen entstehen und sich nicht nervös machen zu lassen.