Martin Roths Manifest
26. August 2017Als "überzeugter Europäer" wolle er aufrütteln, erklärte Roth die Motivation für seine Veröffentlichung im Verlag Edition Evangelisches Gemeindeblatt. "Direkt vor unseren Augen baut sich ein extrem rechtslastiges Europa auf", heißt es und er fragt: "Wo sind unsere christlichen Werte? Die Nächstenliebe?" Freiheit, Toleranz und Solidarität seien ihm heilig. Die Rhetorik im Brexit-Streit Englands sei so kriegerisch gewesen, dass sich Parallelen zur deutschen Vergangenheit aufdrängten.
Martin Roth war viele Jahre lang Direktor des Londoner Victoria & Albert Museums, hatte sich lautstark in die Brexit-Debatte eingemischt und die Briten vor einem Verlassen der Europäischen Union gewarnt. Den Brexit-Beschluss selbst nannte er in Interviews "eine persönliche Niederlage". Der Weltbürger mit schwäbischen Wurzeln, der als Museumsmann vieles bewegt hatte, verstand angesichts des erstarkenden Nationalismus und des Populismus in Europa die Welt nicht mehr.
"Er meinte, es geht doch gar nicht um mich", erinnert sich Roths Tochter Mascha, "es ist nicht mehr meine Generation, die was verändern wird. Wir müssen mit der nächsten Generation reden!" Deshalb setzte sich Martin Roth mit seinen drei bereits erwachsenen Kindern Clara (20), Roman (27) und Mascha (28) an den Küchentisch, um zu reden. Das Aufnahmegerät ließ er mitlaufen. Da war Roth längst schwer krank und wusste, dass er bald sterben würde.
"Widerrede" erinnert an Hessels "Empört Euch!"
Herausgekommen ist ein schmales Bändchen von knapp 100 Seiten, das an Stéphane Hessels
"Empört Euch" von 2010 erinnert. Der ehemalige französische Widerstandskämpfer hatte zornig gegen den globalen Finanzkapitalismus angeschrieben und zum politischen Widerstand aufgerufen. Nicht weniger dringlich appelliert nun Roth, Europa nicht den Populisten und den Europa-Gegnern zu überlassen. "Wer sich nicht engagiert gegen die Rückkehr zum alten nationalistischen Denken, wer meint, dass die anderen es schon irgendwie richten für ihn oder sie und die Politik ja sowieso viel zu kompliziert ist, der macht sich mitschuldig!", so Roth.
Roth und seine Kinder sprechen über die Welt, über Europa, über Deutschland und über das eigene Leben. Das Gespräch ist in Auszügen abgedruckt und bildet den Kern von "Widerspruch". "Wir Jüngeren müssen uns engagieren, damit die ältere Generation die Zukunft nicht ruiniert", sagt Clara an einer Stelle, die Jüngste der drei Geschwister. Mascha, die älteste Tochter merkt an: "Wir müssen mehr über die europäische Zukunft reden, darüber, wohin wir wollen!" Und Sohn Roman meint: "Vielleicht ist es ein Spiegel der Zeit, dass wir zu vieles laufen lassen, was wir eigentlich nicht gut finden."
Stellenweise sehr persönlich
Sehr persönlich wird das Buch, wenn Martin Roth über seine eigene Familiengeschichte spricht: über seine Kindheit im Nachkriegs-Stuttgart und über Erinnerungen seiner Mutter und deren Mutter an den Zweiten Weltkrieg. Wenn er, an die Adresse seiner Kinder gerichtet, bekennt: "Ich mache mir Sorgen um Euch, um meine Familie, um mich selbst. Vielleicht auch deshalb, weil sich Eure Generation bisher nicht genug Sorgen gemacht hat." Roths Kinder bescheinigen ihrem Vater, ihnen "awareness" vermittelt zu haben, ein Bewusstsein für die Lage und Probleme der Welt. Das scheint Roth zu beruhigen. Stellenweise wird der Leser Zaungast einer sehr intimen Familienrunde, die alte Familienfotos anschaut und sich über den Wandel der Zeit wundert. Das befremdet, geht es doch um die letzten Wochen und Monate des schwerkranken Martin Roth. Da stellt sich der Leser die Frage: Möchte ich beim Abschied stören?
Martin Roth war ein international gefeierter Museumsdirektor und Kulturmanager. Als erster Deutscher wurde er zum Direktor des Londoner Victoria & Albert Museums. Im Sommer 2017 übernahm er die Präsidentschaft des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart. Er engagierte sich für die Initiative "Offene Gesellschaft". Roth starb am 06. August 2017 nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 62 Jahren. "Widerrede" ist ein ungewöhnliches, wenngleich auch folgerichtiges Projekt Roths. Denn mit seiner Grenzen überwindenden Arbeit hat er viele Antworten schon selbst geliefert: Die wichtigste Botschaft lautet: Kultur ist ein Schlüssel zur Zukunft.
Martin, Mascha, Roman und Clara Roth: "Wiederrede - Eine Familie diskutiert über Populismus, Werte und politisches Engagement" ist ab dem 28. August in der Edition Evangelisches Gemeindeblatt Stuttgart zum Preis von € 9,95 erhältlich.