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Wenn jüdische Künstler als antisemitisch bezeichnet werden

Elizabeth Grenier
20. September 2024

Die geplante Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens sorgt für Unruhe: Kritik kommt unter anderem von jüdischen Kulturschaffenden, die dadurch eine Einschränkung der Meinungsfreiheit befürchten.

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Künstlerin Candice Breitz
Die südafrikanische und jüdische Künstlerin Candice Breitz spricht sich gegen die Instrumentalisierung von Antisemitismus-Vorwürfen ausBild: Till Cremer

Ende 2023 sagte das Saarlandmuseum - Moderne Galerie die Ausstellung der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz ab. Die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, der Träger des Saarlandmuseums, wollte mit der Künstlerin nicht in Verbindung gebracht werden, da sie angeblich einen Brief der BDS-Bewegung (die Abkürzung steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) unterzeichnet hätte. Den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 habe sie bis dahin ebenfalls nicht deutlich verurteilt, so die Begründung für die Absage der Ausstellung.

Beide Behauptungen seien falsch, betonte Breitz mehrfach. Auf einer Podiumsdiskussion über die Auswirkungen von Deutschlands besonderer Haltung zur BDS-Bewegung, die am 8. September 2024 im Rahmen des internationalen Literaturfestivals Berlin (ilb) stattfand, äußerte sich die Künstlerin dazu erneut. Sie sagte, dass sie zwar das demokratische Recht auf Boykott befürworte, aber keine BDS-Unterstützerin sei und auch nie einen Brief der Bewegung unterschrieben habe.

Warum der Krieg in Gaza die Kulturwelt spaltet

Am Abend bevor das Museum ihre Ausstellung absagte, schrieb Breitz auf Instagram: "Es ist möglich, die Hamas vollkommen zu verurteilen (wie ich es eindeutig tue) und gleichzeitig den breiteren palästinensischen Kampf für Freiheit und gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Besetzung zu unterstützen."

Und noch etwas macht Breitz' Fall besonders: Sie ist Jüdin.

"Ich mag die zweifelhafte Ehre haben, die erste jüdische Künstlerin zu sein, der Deutschland die Plattform entzogen und die Finanzierung gestrichen hat, aber ich bin nicht die erste Jüdin, die davon betroffen ist", sagte sie, als der Krieg ausbrach. "Ein breites Spektrum von AktivistInnen, KünstlerInnen und anderen Kulturschaffenden wird in großer Eile und mit McCarthyistischem Eifer geteert und gefedert."

Als McCarthyismus wird eine politische Bewegung bezeichnet, die Bürger und Bürgerinnen ab den späten 1940er-Jahren bis Mitte der 1950er-Jahre in den USA verfolgte, die im Verdacht standen, kommunistische Ansichten zu vertreten. Benannt wurde sie nach US-Senator Joseph McCarthy, der vor dem Hintergrund des Kalten Krieges öffentlich unter anderem Kunstschaffende und Intellektuelle verhörte, oft ohne Beweise für deren angebliche Sympathie für den Kommunismus. Manche von ihnen verloren ihre Arbeit und ihr gesellschaftliches Ansehen.

Israel und die Araber: eine Geschichte von Hass und Gewalt?

Veranstaltungen werden abgesagt

Der Deutsche Bundestag hat 2019 eine Resolution verabschiedet, in der die BDS-Bewegung als "antisemitisch" verurteilt wird. Seitdem haben verschiedene Kultureinrichtungen des Landes Gäste ausgeladen oder Verleihungen abgesagt, um Kontroversen und Antisemitismusvorwürfe zu vermeiden.

Dieses Vorgehen wurde nach dem Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas im Oktober 2023 noch deutlicher, als bei dem Terrorangriff auf Israel rund 1200 Menschen getötet und mehr als 200 Geiseln verschleppt wurden.

Dazu gehörten auch Fälle, in denen Personen öffentlich Israels Vorgehen im Gazastreifen kritisierten, ohne dabei die Hamas direkt zu verurteilen, und schließlich des Antisemitismus' bezichtigt wurden. Der israelische Filmemacher Yuval Abraham und sein palästinensischer Co-Regisseur, Basel Adra, erlebten dies im Februar 2024 auf der Berlinale am eigenen Leib, nachdem sie in ihrer Rede Kritik an der israelischen Regierung geübt hatten. 

Regisseure Yuval Abraham (links) und Basel Adra. Deutsche Israel-Debatte auf der Berlinale 2024
Regisseure Yuval Abraham (links) und Basel Adra wurden erst für ihre Rede auf der Berlinale im Februar bejubelt und danach des Antisemitismus beschuldigtBild: Monika Skolimowska/dpa/picture alliance

Abraham, der nach den Vorwürfen zurück in Israel mit Morddrohungen konfrontiert wurde, kritisierte die deutschen Behörden für die Abwertung des Begriffs Antisemitismus.

"Deutschland benutzt einen Begriff, der eigentlich zum Schutz der Juden gedacht war, als Waffe, nicht nur um Palästinenser zum Schweigen zu bringen, sondern auch um Juden und Israelis, die die Besatzung kritisieren, zum Schweigen zu bringen", sagte er.

Ähnliche Warnungen kommen von der Diaspora-Alliance, einer von Juden und Jüdinnen geführten internationalen Organisation, die sich gegen die Instrumentalisierung von Antisemitismus und für die Bekämpfung dessen, was sie als "echten" Antisemitismus bezeichnet, einsetzt.

Bei 25 Prozent der Vorfälle waren jüdische Einzelpersonen oder Gruppen das Ziel

Die Diaspora-Alliance erstellt momentan eine Liste der deutschen Fälle von Zensur oder Deplatforming (Englisch für "jemandem die Plattform nehmen"), die im Zusammenhang mit Antisemitismusvorwürfen stehen.

Ihre Daten sollen ab 2025 online verfügbar sein. Diese zeigen, dass nicht nur Palästinenserinnen und Palästinenser und die breitere Gemeinschaft der Musliminnen und Muslime sowie Araberinnen und Araber unmittelbar von Deutschlands spezifischer Haltung betroffen sind, sondern auch viele Jüdinnen und Juden. Letztere machen in Deutschland weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus. 

Von den 84 Fällen von Deplatforming oder Veranstaltungsabsagen, die die Diaspora-Alliance im Jahr 2023 dokumentiert hat, betrafen 25 Prozent jüdische Einzelpersonen oder Gruppen, die Jüdinnen und Juden einschließen.

Deutschland Köln 2024 | Schriftstellerin Deborah Feldman bei Lit.Cologne-Veranstaltung
Lesungen der jüdisch-amerikanischen Autorin Deborah Feldman wurden im November 2023 abgesagt aus Angst, Passagen ihres Buches würden antisemitische Ressentiments in Deutschland bedienenBild: Henning Kaiser/dpa/picture alliance

Die Leiterin der deutschen Niederlassung der Organisation, Emily Dische-Becker, bestätigte diese Statistik gegenüber der DW.

Sie wies jedoch darauf hin, dass ihre jüdische Organisation vermutlich eher über Fälle informiert werde, die insbesondere jüdische Menschen betreffen. 

Was ist die deutsche Definition von Antisemitismus?

Die deutsche Resolution von 2019 mit dem Titel  "BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen" beruht auf der Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Diese wird dafür kritisiert, dass sie das, was einige als legitime Kritik an Israel sehen, als "antisemitisch" bezeichnet.

Die Definition der IHRA beinhaltet unter anderem "Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten" und "das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen."

Selbst der Hauptautor der IHRA-Definition, US-Anwalt Kenneth Stern, möchte nicht, dass sie als Grundlage für ein Rechtsinstrument verwendet wird. Viele Antisemitismus-Wissenschaftler, die von der Diaspora-Alliance aufgelistet werden, unterstützen seine Position. Sie empfehlen stattdessen die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus von 2021.

Dennoch arbeitet der Deutsche Bundestag derzeit an einem neuen Resolutionsentwurf, der den Titel "Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken" trägt. Auch dieser nutzt die IHRA-Definition als Grundlage. Aufgrund ihrer Vergangenheit sieht die Bundesrepublik Deutschland es als ihre historische Verantwortung, Israel zu beschützen.

Deutschland und Israel - Eine ganz besondere Beziehung

150 jüdische Persönlichkeiten klagen gegen Resolutionsentwurf

Die Tageszeitung "taz" veröffentlichte Ende August einen offenen Brief, der von bekannten jüdischen Kulturschaffenden und Intellektuellen unterschrieben worden ist. 150 jüdische Menschen haben den Brief seit seiner Veröffentlichung unterzeichnet. Sie bringen darin ihre Besorgnis zum Ausdruck: "Diese Resolution beansprucht, jüdisches Leben in Deutschland schützen zu wollen. Stattdessen stellt sie jedoch in Aussicht, dieses zu gefährden."

Die Resolution werde "jüdische Stimmen zum Schweigen und jüdische Wissenschaftler*innen, Schrift­stel­le­r*in­nen und Künstler*innen, die innerhalb und außerhalb Deutschlands arbeiten, in Gefahr bringen."

Autorin Sharon Dodua Otoo
Die Gewinnerin des Peter-Weiss-Preises 2023: Die britische Autorin Sharon Dodua Otoowar war in eine Antisemitismus-Kontroverse verwickelt, weil sie 2015 eine BDS-Petition unterzeichnet hatte Bild: Horst Galuschka/dpa/picture alliance

"Dies ist eine böswillige Verzerrung der Realität, die auf der falschen Verquickung von Antisemitismus und jeglicher Kritik an der israelischen Regierung beruht. Als Jü­d*in­nen weisen wir insbesondere die in der Resolution enthaltene Behauptung zurück, dass der Antisemitismus von Mi­gran­t*in­nen nach Deutschland, der Wiege des Nationalsozialismus, importiert wurde."

'Gute Juden' und 'schlechte Juden'?

Auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin (ilb) war die geplante Resolution auch ein großes Thema. Autor und Herausgeber des "Ruhrbarone"-Blogs, Stefan Laurin, dessen Berichterstattung über Antisemitismusvorwürfe Medienkontroversen ausgelöst und zu mehreren Löschungen geführt hat, war Gast bei einer Podiumsdiskussion. Aufmerksamkeit erregte der "Ruhrbarone"-Blog auf Facebook mit den Slogan "Transform Gaza to Garzweiler", der die Zerstörung des Gazastreifens implizierte.

Die Künstlerin Candice Breitz wies während der Diskussion daraufhin, dass Stefan Laurin es vermied, die 150 Unterzeichnenden als jüdisch zu benennen. Stattdessen bezeichnete er sie eher vage als Bestandteil "des antisemitischen Teils der Kulturszene."

Deutschland Literaturfestival Berlin Boykott-Dilemma – BDS Strike Germany und kein Ende. Von links nach rechts am Tisch: Stefan Laurin, Peter Kuras, Stephanie von Oppen, Per Leo und Candice Breitz
Bei der ilb-Diskussion "Boykott-Dilemma" waren Stefan Laurin, Peter Kuras, Stephanie von Oppen, Per Leo und Candice Breitz dabeiBild: Charlotte Kunstmann/Internationales Literaturfestival Berlin/PWS e.V.

In der Diskussion verteidigte Laurin seine Arbeit, indem er den Chefredakteur der deutsch-jüdischen Wochenzeitung Jüdische Allgemeine, Philipp Peyman Engel, zitierte. Engel hatte in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" den Verdacht geäußert, dass Muslime und radikale Linke eine größere antisemitische Bedrohung darstellten als die extreme Rechte.

Viele jüdische Menschen, die Unterzeichner des Briefes mit eingeschlossen, vertreten eine andere Meinung. "Wir haben keine Angst vor unseren muslimischen Nach­ba­r*in­nen und auch nicht vor unseren Künstlerkolleg*innen, Schrift­stel­le­r*in­nen und Akademiker*innen. Wir fürchten die wachsende Rechte, wie sie sich in Massenversammlungen von Neonazis zeigt, die durch ein nationales Klima der fremdenfeindlichen Angst ermutigt werden. Wir fürchten die Alternative für Deutschland, die zweitstärkste politische Partei des Landes, deren Führungsfiguren wissentlich Nazi-Rhetorik verbreiten. Diese Bedrohung wird in der Resolution kaum erwähnt [...]"

"Juden sind politisch so vielfältig wie alle anderen Menschen auch", sagte Breitz als Reaktion darauf, dass Laurin die Meinung von Peyman Engel gegenüber der von mehr als 150 anderen Juden öffentlich geäußerten Meinung bevorzuge. Sie kritisierte seinen selektiven Ansatz als Teil einer beunruhigenden Dynamik in Deutschland, wo eine Unterscheidung zwischen "guten Juden" und "schlechten Juden" getroffen werde, um abweichende Stimmen zu unterdrücken.

Diese Kategorisierung wurde auch vom britisch-israelischen Professor Eyal Weizman in einem Gespräch, das in der Novemberausgabe 2023 der Zeitschrift Granta veröffentlicht wurde, scharf verurteilt: "Wieder einmal definiert Deutschland, wer ein Jude ist, nicht wahr?", sagte er. "Die Ironie, dass der deutsche Staat tatsächlich klassifiziert, wer ein Jude ist, was eine legitime jüdische Position ist und wie Juden reagieren sollten, ist einfach unterirdisch."

Adaption aus dem Englischen: Annika Sost.