"Wenig Chancen für Selbstbestimmung in Tibet"
27. April 2016Deutsche Welle: Wie ist die Wahl vonstatten gegangen?
Ludwig: Jeder Exiltibeter, egal wo er lebt, auch, wenn es sein muss, auf den Fidschi-Inseln, hat das Recht, seine Stimme abzugeben, und das wurde auch so organisiert. Die meisten der über 85.000 leben in Südindien, viel mehr übrigens als etwa am Sitz der Exilregierung im nordindischen Dharamsala. Eine große Zahl lebt auch in Nepal, wo die Stimmabgabe mehr oder weniger versteckt durchgeführt wird, weil die nepalesische Regierung das unter chinesischem Einfluss nicht so gerne sieht.
Welche Kandidaten bzw. Richtungen standen zur Wahl?
Härtester Konkurrent des alten und neuen Ministerpräsidenten Lobsang Sangay war der Parlamentspräsident Penpa Tsering, beides Politiker, die aus dem exiltibetischen Establishment kommen und auf der Linie des Dalai Lama sind, also den sogenannten "mittleren Weg" vertreten, das heißt keine Unabhängigkeit, aber echte Autonomie für Tibet.
Der einzige echte Alternativkandidat im ersten Wahlgang war Lukar Jam, der als einziger der Kandidaten ganz klar gesagt hat: Nein, wir sind hier nicht wegen Autonomie und mittlerem Weg und so weiter, sondern wir wollen die Unabhängigkeit. Lukar Jam ist auch der einzige der Kandidaten, der in Tibet geboren wurde und vor rund zehn Jahren nach Haftzeiten in chinesischen Gefängnissen nach Indien fliehen konnte. Bei der ersten Runde kam er aber nur auf sechs Prozent, und nur die beiden ersten kamen in die Stichwahl.
Das zeigt, wie sehr die Vorgaben des Dalai Lama die Stimmung in der Exilgemeinde doch noch bestimmen. Lukar Jam ist eher von tibetischen Intellektuellen unterstützt worden, Schriftstellern, Journalisten, die eigentlich die einzigen sind, die es auch mal wagen, den Dalai Lama zu kritisieren oder eine andere Position zu vertreten.
Die Forderung nach Unabhängigkeit ist also – bislang jedenfalls – eine Außenseiterposition. Stattdessen steht die Forderung nach Autonomie für die Tibeter im Vordergrund. Was ist genau darunter zu verstehen?
Die Autonomie, die den Tibetern vorschwebt, kann man vielleicht am ehesten mit der Autonomie für Südtirol in Italien mit seiner deutschsprachigen Volksgruppe vergleichen. Also eine reale innere Selbstverwaltung. Offiziell hat Tibet ja den Status einer autonomen Region, wie vier weitere in China, darunter Xinjiang.
Auf dem Papier gibt es scheinbare Errungenschaften, so muss der Regierungschef einer solchen autonomen Region von einem Vetreter der jeweiligen Volksgruppe gestellt werden. Aber der eigentliche Machthaber ist bekanntermaßen der jeweilige Parteisekretär der Region. Die entscheidende Forderung wäre also, dass die Tibeter in ihrer Region ihre eigene Verwaltung und ihren eigenen Regierungschef unabhängig und frei wählen dürfen und nicht von Peking aufoktroyiert bekommen. Damit wäre die staatliche Souveränität Chinas nicht in Frage gestellt. Im besten Fall würde, in einem föderalistischen Sinne, auch die Zuständigkeit für Polizei und Schulwesen dazugehören. Von einer solchen echten Autonomie, wie wir sie verstehen, ist aber in Tibet nichts umgesetzt.
Würde eine solche Autonomie – mal abgesehen von der fehlenden Zustimmung der KPCh – nicht schon an der Bevölkerungsverschiebung in Tibet scheitern?
Genau, Peking müsste die Sinisierung, den gezielten Zuzug der Chinesen nach Tibet, unterbinden. Es handelt sich ja nicht um eine spontane Migrationsbewegung. Viele Chinesen leben nicht unbedingt gerne in Tibet. Auch der frühere KP-Chef in Tibet, Hu Jintao, der 1989 das Kriegsrecht in Tibet ausgerufen hat, hat die meiste Zeit in China gelebt, weil er die Höhenluft nicht vertrug.
Durch wirtschaftliche Anreize, wodurch die Verlierer im Tiefland in Tibet plötzlich zur Führungsschicht gehören, wird diese Ansiedlung vorangetrieben. Also die Tibeter müssten im wesentlichen selber entscheiden, wieviel Zuwanderung sie verkraften können und wieviel nicht. In der Inneren Mongolei zum Beispiel hätte ein solches Modell bei den heutigen demographischen Verhältnissen keine Chance.
Neben echter Selbstverwaltung und Stopp der massiven Zuwanderung gehört die freie Religionsausübung zu den Forderungen der Tibeter.
Auch die ist formal gewährleistet, auf dem Papier. In der chinesischen Verfassung von 1984, in der man mit den letzten Resten der Kulturrevolution Schluss gemacht hat, ist Religionsfreiheit verankert. Aber Dalai-Lama-Bilder dürfen in Tibet überhaupt nicht gezeigt werden. Nun beinhaltet der tibetische Buddhismus aber die Verehrung seiner großen Lehrer, und dazu gehört der Dalai Lama an erster Stelle.
Die Religionsfreiheit in Tibet beschränkt sich auf äußere Formen und Normen, also dass die Menschen in die Tempel gehen und Opfergaben bringen dürfen, dass sie die heiligen Stätten umwandern dürfen, soweit es sie noch gibt. Aber die inhaltliche Substanz, die ungestörte Weitergabe des tiefen Gehalts des Buddhismus, das ist sehr stark eingeschränkt, weil die Klöster sehr stark eingeschränkt sind.
Was steckt hinter dieser Politik Pekings?
Die KP hat natürlich mitbekommen, dass die Klöster das Zentrum des Widerstands sind. Sie hat sie mit Spitzeln infiltriert, die man, auch wenn man sie kennt, schlecht vor die Tür setzen kann, weil sie von der KP geschützt werden. In unmittelbarer Nähe vieler Klöster wurden Polizeiwachen errichtet, die Kontrolle der Religionsgemeinschaft ist schon äußerlich sehr stark. Unter solchen Bedingungen ist es natürlich kaum möglich, seine Religion zu leben und weiterzutragen.
Natürlich, wenn die Tibeter vollkomen angepasst wären und sagten, wir akzeptieren alles, was die Chinesen uns vorsetzen und machen nichts, was gegen die KP ist, dann würde die KP sich vielleicht ein bisschen liberaler geben. Aber sie sieht eben, dass der Widerstand maßgeblich von den Mönchen kommt, und deshalb werden sie auch entsprechend unterdrückt.
Die KP hat den Anspruch, sämtliche gesellschaftlichen Bereiche zu kontrollieren. Als es in den 80er Jahren leichte Öffnungstendenzen gab, sind ja auch angebliche Liberale wie Deng Xiaoping massiv eingeschritten mit der Folge des Massakers auf dem Tiananmen-Platz. Die KP müsste akzeptieren, dass auch andere gesellschaftliche Gruppen außerhalb ihrer Kontrolle existieren und in bestimmten eingeschränkten Bereichen, wie zum Beispiel der Religion, auch selbstbestimmt existieren können, und davon ist die KP insgesamt weit entfernt.
Es gab ja in der Vergangenheit Wellen von Selbstverbrennungen von Tibetern, hauptsächlich Mönchen. Sogar der Dalai Lama hat diese Form des Protests gegen die Politik Pekings verurteilt.
Das stimmt, der Dalai Lama hat sich wiederholt deutlich gegen die Selbstverbrennungen geäußert, er hat sogar den Hungerstreik als politisches Mittel verurteilt, also er ist sehr weitreichend in seiner Ablehnung von Gewalt, auch gegen sich selbst. Aber er hat auch immer wieder gesagt, und das ist eine sehr wichtige Botschaft: Verantwortlich für diese Tragödie der Selbstverbrennungen ist die Politik der KP Chinas, die die Tibeter in eine Lage bringt, in der viele offensichtlich meinen, es gibt keinen Ausweg mehr, außer sich selbst zu verbrennen.
Von vereinzelten Exiltibetern wird Kritik an der Exilregierung geübt, sie sei wirkungslos und eigentlich überflüssig.
Der Exilregierung sind sehr stark die Hände gebunden, und die Zeiten, als der Dalai Lama, egal in welcher Funktion, noch offen empfangen wurde, auch noch von Bundeskanzlerin Merkel, die sind vorbei. Die Exilregierung hat einen unglaublich engen Spielraum, um politisch ernst genommen zu werden. Sie selber geht ja auch schon einen Schritt zurück und nennt sich "Zentrale tibetische Verwaltung" und nicht mehr Exilregierung. Das ist aus meiner Sicht ein bisschen viel Entgegenkommen, je stärker der Druck aus China wird, desto mehr meint sie, selber zurückweichen zu müssen.
Die einzige Chance wäre, dass die demokratische Welt, die so eng mit China in wirtschaftlichem Kontakt und Austausch steht, sich mehr für Tibet einsetzte. Etwa 2008 gab es ja einige Initiativen, auch Stellungnahmen des damaligen Außenministers Westerwelle, der ganz klar der chinesischen Führung die Verantwortung für die damaligen Selbstverbrennungen zugewiesen hat, aber diese Zeiten sind leider vorbei. Das ist eben die politische Großwetterlage, und unter der leidet die tibetische Exilregierung sehr stark.
Also gibt es keine Hoffnung für die tibetische Selbstbestimmung?
Für besonderen Optimismus gibt es tatsächlich keinen Anlass, auch nicht unter Xi Jinping, mit dem man anfangs gewisse Hoffnungen verbunden hatte. Aber in Tibet hat sich seit den 2010er Jahren eine Bewegung vor allem junger Leute gegründet, gerade in Ost-Tibet, nachdem die Selbstverbrennungen, die dort ihren Schwerpunkt hatten, etwas abgeflaut sind, die heißt Lahkar, "weißer Mittwoch". Weiß als Glücksfarbe und Mittwoch als der Wochentag, an dem der Dalai Lama geboren wurde.
Diese Leute sagen: An diesem Tag stellen wir ganz stark das Tibetische heraus, wir kleiden uns traditionell, wir sprechen nur Tibetisch, wir kaufen nur bei Tibetern ein, usw. Das ist eine Bewegung, die vielleicht ein bisschen Anlass zum Optimismus gibt, da tun sich die Behörden auch schwer, gegen vorzugehen, weil sich das in einem Rahmen bewegt, der völlig von der Verfassung abgedeckt ist. Damit können die Tibeter weiterhin zeigen, dass sie trotz Jahrzehnten der Assimilierung und Sinisierung und Repression an ihrer Tradition festhalten. Früher konnte man immer sagen, die Tibeter, dass sind alles Leute, die von der "Dalai-Lama-Clique" beeinflusst sind. Das sind jetzt aber Leute, die persönlich nie etwas vom Dalai Lama mitbekommen haben, die Jahrtzehnte nach der Flucht des Dalai Lama geboren worden sind, aber an ihrer traditionellen Kultur festhalten.
Klemens Ludwig war mehrere Jahre Vorsitzender des Vereins "Tibet Initiative Deutschland" und ist Autor mehrer Sachbücher, unter anderem zu Tibet.