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"Komplette Lähmung in Sierra Leone"

Philipp Sandner15. August 2014

Die stärkste Waffe gegen Ebola ist, betroffene Gebiete zu isolieren. Doch das führt zu Nahrungsknappheit. Die Folgen werden Westafrika noch Monate beschäftigen, sagt Jochen Moninger von der Deutschen Welthungerhilfe.

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Jochen Moninger von der Deutschen Welthungerhilfe in Sierra Leone (Foto: Deutsche Welthungerhilfe).
Bild: Deutsche Welthungerhilfe

DW: Aus den von Ebola betroffenen Ländern Liberia und Sierra Leone erreichen uns Berichte, dass nun auch noch Lebensmittel knapp werden. Die Welthungerhilfe arbeitet dort seit vielen Jahren. Wie schlimm ist die Lage im Moment bei Ihnen in Sierra Leone, Herr Moninger?

Jochen Moninger: In den wegen der Epidemie abgeriegelten Gebieten kommen keine neuen Lebensmittel auf den Markt. Die Quarantäne ist seit sieben Tagen in Kraft, und wir rechnen damit, dass das noch drei, vier Wochen weitergeht. In den betroffenen Gebieten sind die Reispreise in den letzten sechs Tagen um 20 Prozent gestiegen, der Preis für Palmöl um 60 Prozent. Nur Bauern aus den umliegenden Dörfern liefern noch auf den lokalen Märkten. Ausländische Lebensmittel wie chinesischer Reis fehlen häufig ganz.

Die Menschen kaufen zudem mehr ein, um Vorräte zu horten, was in Krisensituationen ganz normal ist. Das hängt auch damit zusammen, dass das öffentliche Leben vor allem in den Krisenregionen fast komplett zum Erliegen gekommen ist. Man macht nichts anderes mehr als Ebola-Bekämpfung. Alle anderen Entwicklungsprogramme sind eingestellt, auch der Privatsektor steht still. Wir sind in einer Situation der kompletten Lähmung. Die Regierung sagt zwar, sie lasse weiterhin Nahrungsmitteltransporte in die Städte unter Quarantäne hinein. In der Praxis haben aber viele Händler ihre Aktivitäten reduziert.

Die Lastwagenfahrer und Händler haben also aus eigenem Antrieb diese Maßnahmen ergriffen, aus Angst, sich anzustecken?

Das Bewusstsein über die Krankheit ist in den letzten zwei Wochen gestiegen. Jeder hier hat sein Verhalten geändert. Es werden keine Hände mehr geschüttelt, man geht abends nicht aus, besucht keine Freunde mehr. Man verbringt die meiste Freizeit daheim mit der Familie und meidet den Kontakt mit Fremden. Das sind die Empfehlungen der Regierung, die von der Bevölkerung akzeptiert und unterstützt werden. Auch Prediger verbreiten das in Kirchen und Moscheen.

Wir sind sehr froh, dass die Bevölkerung dafür Verständnis hat, fürchten aber, dass das Lebensmittelangebot sich so sehr verknappt, dass die Bevölkerung bald kein Verständnis mehr für die Situation aufbringt. In Kenema zum Beispiel, einer Stadt von 115.000 Einwohnern, gibt es sechzig abgeriegelte Häuser. Keiner kommt dort mehr rein und raus. Das sind Großfamilien, keine Verbrecher. Auch die Nachbarn bekommen mit, dass da Soldaten vor den Türen stehen.

Am Mittwoch empfahl Deutschland seinen Staatsbürgern in der Region, die betroffenen Länder zu verlassen. Wie geht die Deutsche Welthungerhilfe mit diesem Aufruf um?

Wir halten es für wichtig, hier zu bleiben, weil wir hier verwurzelt sind. Wir haben viele Partner und Freunde, die uns anrufen, um sich bei ihrer Arbeit mit uns zu beraten. Leute, die aktiv in den Distrikt- und Stadträten Ebola-Präventionsmaßnahmen leiten. Die brauchen nicht nur finanzielle Hilfe, sondern auch die gemeinsame Reflexion: Was macht Sinn? Haben wir hier richtig gehandelt, was können wir besser machen? Das sind wir unseren Freunden schuldig. Wir leben hier seit Jahren. Wir können nicht wegen einer Krise einfach weglaufen. Zumal ja unser Leben nicht akut gefährdet ist. Akut gefährdet sind etwa Menschen, die im Krankenhaus arbeiten und dort mit Ebola-Patienten in Kontakt kommen.

DW-Karte zeigt Guinea, Sierra Leone, Liberia und Nigeria.
Die Epidemie grassiert besonders in Sierra Leone und dessen Nachbarländern Liberia und Guinea.Bild: DW

Wie kann die Welthungerhilfe denn helfen - eine Organisation, die normalerweise durch landwirtschaftliche Projekte Hungerprävention betreibt?

Seit gestern nehmen wir in fünf betroffenen Bezirken an den täglichen Ebola-Task-Force-Treffen teil. Eine Aufgabe ist, Daten zu erfassen: Was fehlt in der Bevölkerung, wo sind die Familien, die jetzt durch die Krise hilfsbedürftig geworden sind oder es erst noch werden? Wir gehen davon aus, dass viele Bauernfamilien nicht wie gewohnt ihr Saatgut ausgesät haben, weil sie etwa von den Isolationsmaßnahmen betroffen waren. Wir haben auch Geld für Nothilfemaßnahmen zur Verfügung gestellt. Die Deutsche Welthungerhilfe ist in der Lage, schnell zu reagieren, weil wir über die nötigen Strukturen verfügen: über Autos, Sprit, Fahrer - und weil wir das Wissen über den lokalen Markt haben.

Der Höhepunkt der steht möglicherweise noch bevor, gerade auch, was die Versorgungsengpässe betrifft. Das UN-Welternährungsprogramm hat die höchste Alarmstufe ausgerufen. Wie lässt sich diese noch bevorstehende Krise bewältigen?

Bei jeder Krise geht es einerseits darum, die Ursache der Krise selbst zu bekämpfen, in diesem Fall also die Krankheit. Das zweite sind die Auswirkungen der Krise. Wir müssen feststellen, wo die Krise wie gewirkt hat. Welche Menschen sind infolgedessen hilfsbedürftig? Wo müssen wir unsere Maßnahmen anpassen? Wir führen normalerweise landwirtschaftliche Projekte durch. Im Anbau von Kakao und Kaffee, Palmöl und Maniok trainieren wir Bauern von der Baumschule über die Auspflanzung und Ernte bis zur Verwertung und Vermarktung. Vielleicht brauchen sie das in den nächsten sechs Monaten nicht mehr, weil sie zunächst auf Saatgut für ihr tägliches Überleben angewiesen sind. Diese Daten werden noch erfasst. Sicher ist aber: Die nächsten vier bis sechs Monate werden der Nach-Krisen-Bewältigung gewidmet sein.

Jochen Moninger ist Landesdirektor der Deutschen Welthungerhilfe in Sierra Leone mit Sitz in der Hauptstadt Freetown. Er lebt seit vier Jahren dort und leitet ein Team von elf internationalen und rund 120 nationalen Mitarbeitern.

Das Interview führte Philipp Sandner.